Heute bin ich blond
Tag, in diesem Raum aber veränderte sich meine Welt vollständig – und nur meine. Die anderen Studenten liefen einfach weiter, um rechtzeitig zur Vorlesung zu kommen, in einer Hand einen Plastikbecher mit miesem Automatenkaffee, in der anderen ihr Frühstück oder die Morgenzeitung. Und nicht nur die Studenten, auch die – jetzt plötzlich schrecklichen, beängstigenden – Weißkittel verschwanden außer Sicht, um sich ihren neuen Prioritäten zu widmen. Nur meine Welt blieb zurück, und sie schien mehr und mehr zu einer ganz eigenen Welt zu werden.
Eine Viertelstunde später wurden wir in die onkologische Ambulanz weitergeschickt, die Abteilung für Krebspatienten. Dort bestätigten sich die vergangenen Minuten, und die Wahrheit nahm allmählich Gestalt an. So nüchtern, als ginge es um die Produktion von Autoreifen. Von dem Gespräch dort habe ich nur die ersten Wörter behalten: »aggressiv«, »selten«, »gestreut«. Von der Leber in die Lunge.
Ein Schlag. Au. Nicht gut, dachte ich, gar nicht gut. Und dann der letzte Satz des Arztes: »Das wegzukriegen ist schon allein eine Herausforderung. Aber die eigentliche Herausforderung kommt erst noch: zu erreichen, dass es auch wegbleibt.«
Noch ein Schlag.
Muss ich sterben?, ging es mir durch den Kopf. Ich schaute schräg nach unten, dahin, wo Wand und Boden zusammentreffen.
Der nächste Schlag: »Wenn wir dir überhaupt helfen können, dann …«
Wenn. »Wenn«, hatte er gesagt. Ja, dachte ich, ich muss sterben. Was soll ich noch mit meinem Leben?
Und noch ein Schlag: »Vierundfünfzig Wochen … Chemo … Knochen- CT … Wenn … Wenn … Wenn …«
Ich musste da weg, ich konnte jetzt einfach nicht über den Zustand meiner Zellen oder meines Knochenmarks sprechen. Ich lief hinaus.
Mein Vater hörte sich den Rest an und beendete dann das Gespräch.
Wir mussten sofort in die Radiologie, wo man mir eine radioaktive Substanz spritzte. Mein Vater ging weg – um meine Mutter und meine Schwester anzurufen, wie sich später herausstellte. Aber ich dachte, na toll, wenn er das schon nicht aushält. Als er zurückkam, waren seine Augen gerötet, was er vergeblich zu verbergen suchte. Das ist das Schlimmste an dem ganzen Alptraum: ein Vater, der in die Knie geht, wenn er denkt, man schaut gerade nicht hin. Oder eine Mutter, die sich nachts am Telefon bei ihrer Schwester ausweint, auf der Treppe, weil sie glaubt, da höre ich sie nicht.
Die Spritze musste zwei Stunden wirken. Das gab uns gerade genug Zeit, um die Umgebung zu wechseln und uns zu Hause zu verkriechen.
»Das klingt nicht gut, Pap«, sagte ich, »das klingt überhaupt nicht gut.« Das ist der Anfang vom Ende, dachte ich.
»Bei deiner Mutter hat sich das auch erst alles so negativ angehört, Sophie«, antwortete mein Vater. »Das wird jetzt ein Scheißjahr, aber nächstes Jahr ist alles wieder beim Alten.«
»Was redest du denn da, hier geht’s doch nicht um Brustkrebs!«
»So sind die Ärzte nun mal«, sagte er entschieden.
Und so sind Väter nun mal, dachte ich.
Als wir in unsere Straße einbogen, stand meine Schwester im Jogginganzug wartend vor dem Haus. Sie heißt Saskia, aber ich nenne sie nur Zus, Schwester. Manchmal sehen wir uns sehr ähnlich, manchmal überhaupt nicht. Wir haben die gleichen dunklen Augenbrauen und die gleichen vollen Lippen, aber das ist auch schon alles. Zu dem Zeitpunkt waren wir gerade nicht so eng. Wir hatten viel aneinander auszusetzen. Aber jetzt brauchte ich sie. Ich zitterte in ihren Armen. »Ich bin erst einundzwanzig, Zus«, stammelte ich, »und ich hab Krebs. Vielleicht sterbe ich.« Sie hielt mich fest an sich gedrückt, und ich spürte, dass sie auch zitterte. Weinend gingen wir ins Haus.
Ich schaute in den Spiegel und suchte nach etwas Fremdem, das nicht zu mir gehörte, das da nicht hinpasste. Einem fremden Krebs. Ich sah ein geisterhaft bleiches, verängstigtes Mädchen. Ich begriff nicht – sah ich mich selbst? Ein Mädchen mit Krebs? Bin ich ein Mädchen mit Krebs?
Meine Mutter war inzwischen auf dem Weg nach Hause, in der Straßenbahn von Sloten zum Hauptbahnhof Amsterdam. Bestimmt saß sie in einer Ecke am Fenster, den Blick in die Ferne gerichtet. Vielleicht war die Bahn auch rappelvoll, und sie musste sich zwischen lauter regennassen Mänteln aufrecht halten. Oder hatte es schon wieder aufgehört zu regnen? Ich weiß es nicht mehr – so viele Tränen wegen Krebs. Ihr Krebs und jetzt mein Krebs. Wäre ich nur bei ihr gewesen,
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