Heute bin ich blond
gibt heute sehr gute Medikamente gegen die Übelkeit.«
Dexamethason heißt eines dieser Wundermittel. Nach ein paar Stunden bin ich angeschwollen wie ein Ballon von all der Flüssigkeit. Kotzen muss ich nicht, aber ich fühle mich zum Kotzen, und das ist viel schlimmer. Endlich kommt eine kleine Welle. Ich kann riechen, was ich zuletzt gegessen habe: Brötchen mit Thunfischsalat. Nie wieder Thunfischsalat.
Galle kommt keine, und ich hänge nicht die ganze Nacht über der Toilettenschüssel – mein erstes Glückserlebnis.
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Dienstag, 1. Februar 2005
In meiner Familie hat jeder eine neue Aufgabe übernommen. Meine Mutter bleibt in dieser Woche rund um die Uhr bei mir, um den Alptraum mit mir gemeinsam zu träumen. Aber von Träumen kann keine Rede sein. Um zwanzig nach sieben werden wir von einem Trupp Krankenschwestern, Pieksern und Kaffeedamen viel zu früh geweckt. Als armes kleines Krebsbündel brauche ich meine Mutter ganz dringend. Wenn ich zur Toilette muss, koppelt sie mich von der Steckdose ab, aus der die Pumpe an meinem Infusionsständer ihre Energie bezieht, und wenn ich mich zum Aufstehen zu elend fühle, putzt sie mir mit einer Hand die Zähne und hält mir mit der anderen eine Brechschale unters Kinn. So hilft sie den Krankenschwestern bei meiner Pflege, und wenn ich schlafe, schläft sie ein bisschen mit.
Mein Vater regelt alles, was zu regeln ist. Er informiert sich bei seinen Arztfreunden über Doktor L., und er googelt meine Krankheit aus. In den vergangenen Tagen hat er eine bessere Beziehung zu meinem Arzt aufgebaut als ich. Die beiden haben schon einige Male allein miteinander gesprochen, während ich woandershin geschaut habe. Davon berichtet er dann gern, wobei er mir das Medizinerlatein aber zum Glück erspart. Ich selbst bin nicht so scharf auf den Kontakt mit Doktor L., ich finde ihn genauso grässlich wie meine Krankheit. Mein Vater ist ein Netzwerker, viel mehr weiß ich nicht von dem, womit er sich von neun bis neun beschäftigt. Über sein riesiges Netzwerk hat er etwas über die Mayo-Kliniken in Amerika herausgefunden, und das hat er zu seinem neuen Projekt gemacht.
Dass meine Krankheit selten ist, schien sich nicht zu bestätigen, als ich mich selbst an den Computer setzte und das Wort »Rhabdomyosarkom« eingab: 846.000 Treffer in 0,17 Sekunden.
Warning Signs of Childhood Cancer:
Rhabdomyosarcoma
Rhabdomyosarcoma is a fast-growing, highly malignant tumor which accounts for over half of the soft tissue sarcomas in children.
Rhabdomyosarcoma tumors arise from a cell called »rhabdomyoblast«, which is a primitive muscle cell. Instead of differentiating into striated muscle cells, the rhabdomyoblasts grow out of control. Since this type of muscle is located throughout the body, the tumors can appear at numerous locations.
Treatment
Rhabdomyosarcoma is treated by a combination of surgery, chemotherapy, and radiation.
Statistics
• Accounts for 5-8 % of childhood cancers.
• 70 % of all rhabdomyosarcoma cases diagnosed in the first ten years of life.
• Usually affects children the ages of 2 to 6 and 15 to 19.
• The peak incidence in 1-5 age group.
• Overall, 50 % of the children diagnosed with rhabdomyosarcoma survive 5 years.
www.acor.org/ped-onc/diseases/rhabdo.html
Ich habe schnell weitergeklickt. Je mehr Krebs, desto weniger Träume. Und in diesem Moment sind sie alle weg, sind mir genommen. Nichts freut mich mehr. Weder das Essen noch meine neuen Jeans noch das Buch auf dem Nachttisch. Alles ist mir egal, auch die Schmerzen beim Anlegen einer Infusion, auch das Kotzen in den Eimer, den meine Mutter hält. Noch nie habe ich mich so leer gefühlt.
Meine Schwester regelt alles, was mit dem Haushalt zu tun hat. Und das ist weit mehr, als unserer mittlerweile senilen und stockblinden Katze den Fressnapf aufzufüllen und montags und donnerstags den Müll rauszubringen. Sie sorgt dafür, dass mein Vater seine Mahlzeiten bekommt und meine Mutter mit Anrufen, Brötchen und Zeitschriften überrascht wird. Woher sie die Zeit nimmt, auch noch mit Pasta und einer frischen Biosuppe, einer Bodylotion und dazu noch einem strahlenden Lächeln bei mir anzukommen, weiß der Geier, aber sie schafft es jeden Tag aufs Neue.
Die Aufgabe, die mir bleibt, ist simpel: erst krank sein, dann wieder gesund werden. Krank und voller Angst – aber auch entschlossen, diese Scheißgeschichte hinter mich zu bringen – liege ich im Bett, jedes Mal gespannt, wenn die
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