Heute bin ich blond
vorgestellt, neue Eindrücke und eine andere Umgebung könnten mir helfen, im Spiegel irgendeiner Schaufensterscheibe der jungen Frau hinter den Perücken zu begegnen. So bin ich nach dem Erscheinen meines Buchs wie eine moderne Nomadin um die Welt gereist – buchstäblich, aber auch bildlich: Ich entdeckte die märchenhafte Welt der Schriftstellerei. Damit meine ich nicht nur das Schreiben, sondern vor allem auch das Lesen.
Ich habe vierhundertachtunddreißig Tage gebraucht, um die junge Frau hinter den Perücken wiederzufinden.
Ganz allmählich habe ich die Identität der Kranken hinter mir gelassen und mir eine neue Identität zugelegt. Von der Krebspatientin zur Ex-Krebspatientin zur Schriftstellerin. Diese Wendung, zustande gekommen durch die Magie ungeplanter Veränderungen – ein Geschehen, für das ich noch immer die richtigen Worte suche –, brauchte nicht nur Zeit. Erst eine Begegnung hat mich dazu gebracht, die bleibende Bedrohung durch die Krankheit abzuschütteln: Es war schon Nacht, und ich saß in einem schönen Kleid neben einer libanesischen Dame, mit der ich ohne Worte in Kontakt kam. Plötzlich griff sie nach meiner Hand, dann nach der anderen, und sie verschwand für einige Sekunden ganz in ihrer Welt. Wie gern wäre ich in ihre Gedanken hineingekrochen. Als sie wieder aufsah, sagte sie mir, ich hätte ein sehr langes Leben vor mir, mit vielen Problemen auf meinem Weg. In diesem Augenblick habe ich ja gesagt zum Leben und aufgehört zu grübeln.
So gut wie nichts verbindet mich mehr mit dem Leben, das ich vor dieser Wendung geführt habe. Erstaunlicherweise, denn ich war auch damals Tag für Tag nach besten Kräften bemüht, meine Wünsche, so gut ich konnte, wahr werden zu lassen. Bei der Entwicklung von der Krebspatientin zur Ex-Krebspatientin und zur Schriftstellerin bleibt für mich die Schriftstellerin ein wenig greifbares Klischee und Ex-Krebspatientin ein Titel, mit dem ich mich seltsamerweise wohl fühle; Stempel sind manchmal leider nötig, um etwas zu bezeichnen.
Heute fühle ich mich mit der jungen Frau von damals am meisten durch das verbunden, was meine Krankheit mir geschenkt hat: die Schriftstellerei. Das kann schon morgen ganz anders sein, auch wenn ich mir nicht mehr vorstellen kann, nur einen einzigen Tag nicht zu schreiben. Ich denke, ich weiß heute besser, was ich will und was ich brauche, um ich selbst zu sein. Und ich denke, dass jeder Moment seine eigene, einmalige Magie hat, die genauso gut im Himalaya wie im eigenen Keller vergraben liegen kann und uns den einen Tag nach rechts, den anderen nach links führt. Leben ist Anpassung. Eines der vielen Dinge, die ich für mich herausfinden musste, war die Frage, ob das Schreiben nur ein solches Medium war, das mir in dem Moment sehr gelegen kam, oder ob es mehr war. Wie sich gezeigt hat, ist es mehr.
Eine Verkettung von Umständen hat mich im Frühjahr 2007 nach Heidelberg geführt und anschließend in ein französisches Bauerndorf nördlich von Lyon, so entlegen, dass selbst mein Navigationssystem Mühe hatte, die richtigen Landsträßchen zu finden. An diesem verlassenen Ort brachen innerhalb weniger Tage das Chaos all der Türen, die sich für mich geöffnet hatten, der flüchtigen Aufzeichnungen und das Tempo des vergangenen Jahres über mich herein. »Leben heißt sich verändern, und das ist eine Lektion, die uns die Jahreszeiten immer aufs Neue erteilen«, hat Paulo Coelho einmal geschrieben, ein Satz, auf den fast alle meine Gedanken hinauslaufen. Um sich zu verändern, muss man sich entscheiden. Und vor jeder Entscheidung steht die Qual der Wahl. Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, eine Wahl zu treffen, egal, was sich daraus auf kreativem wie auf persönlichem Gebiet ergibt. Meine Erfahrung des Todkrankseins, aber auch meine Eltern erinnern mich täglich an diese Lektion. Das Nein ist so viel schwieriger als das Ja.
In diesen vierhundertachtunddreißig Tagen der Suche habe ich gut dreihundert Begegnungen, zweiundvierzig Bücher und achtzehn Reisen gebraucht, um herauszufinden, dass ich selbst noch einen ganzen Stapel Bücher zu schreiben habe. Mit der Entdeckung der Schriftstellerin in mir sage ich nein zu den vielen Türen, die sich nach meinem Erfolg geöffnet haben, und öffne selbst die einzige Tür, die für mich zählt. Ich habe einen neuen Weg eingeschlagen und nehme Abschied von der Geschichte, die meinen Kurs so lange bestimmt hat.
Sophie van der Stap
September
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