Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
wurden, haben Paul und ich uns das Rätseln über die Leute unten abgewöhnt. Ob sie im Viereck gehen, im Kreis oder geradeaus. Man kennt sie nicht, was sieht man, wenn man unten auf der Straße neben ihnen geht. Daß sie vorbeigehen, als hätten sie die Zehen hinten und die Fersen vorn, hat mit ihren Füßen nichts zu tun, nur mit mir. Natürlich schauen wir trotzdem ständig zum Fenster hinaus. An einem Auto, das zwecklos an den Hintertüren der Läden herumsteht oder vor dem Wohnblock halb auf dem Gehsteig, wo kein normaler Mensch parken darf, gibt es nichts zu rätseln. Dennoch sind wir damit mehr als genug beschäftigt.
Ich sehe lieber zum Küchenfenster hinaus. Da fliegen die Schwalben durch ein großes Stück Himmel um ihren eigenen Kreis. Heute morgen flogen sie tief und ich habe meine Nuß gekaut und ihnen angesehen, daß draußen ein Tag ist. Weil ich bestellt bin, wird es nur ein Fenstertag, auch wenn ich neben dem Tisch des Majors einen halben Baum sehe. Er ist sicher um eine Armlänge in die Breite gewachsen, seit ich bestellt werde. Im Winter vergeht die Zeit am Holz, im Sommer am Laub. Das Laub nickt oder schüttelt den Kopf, je nach dem Wind. Ich kann nichts darauf geben. Wenn mir Albu eine kurze Frage stellt, will er die Antwort sofort. Kurze Fragen sind nicht die einfachsten.
Ich muß nachdenken.
Eine Lüge ausbrüten, sagt er, für eine schnelle muß man so klug sein, wie du leider nicht bist.
Na gut, dann bin ich dumm, aber nicht so, daß ich etwas sage, was für mich schlecht wär. Um mich drängen zu lassen, wenn Albu mein Gesicht auf Lüge und Wahrheit abschätzt, bin ich nicht dumm genug. Manchmal sind seine Augen kühl, manchmal brennen sie auf mir, daß ...
Manchmal steckt Lilli in mir und schaut zu lang hinein in Albus Augen.
Ich schürfe mit den Schuhen unterm Tisch, dann ist es nicht so still.
Ja der Baum hat ein Laub
und ein Wasser der Tee
das Geld ein Papier
und das Herz einen falsch rum gefallenen Schnee
Ein Winter- und Sommerlied, aber für draußen. Mit Laub und Schnee im Kopf läuft man hier drin rasch ins Garn. Den Namen des Baumes kenne ich nicht, sonst würd ich mir Esche, Akazie, Pappel in den Kopf singen, nicht Baum. Ich dreh am Knopf der Bluse, die noch wächst. So nah wie der Major komme ich den Ästen nie, von dem kleinen Tisch aus. Wir sehen den Baum gleichzeitig an, ich möchte fragen:
Was ist das für ein Baum.
Es wär eine Ablenkung. Er würde bestimmt nicht antworten, sondern den Stuhl nach vorne rücken, und, während die Hosenbeine an den Knöcheln hin und her rutschen, vielleicht an seinem Siegelring drehen oder mit seinem Bleistiftstummel spielen und zurückfragen:
Wozu mußt du das wissen.
Was könnte ich dann sagen. Er weiß ja auch nicht, warum ich immer dieselbe Bluse anziehe, wie er den Siegelring. Warum ich an dem großen Knopf drehe, weiß er nicht. Und ich nicht, warum auf seinem Tisch immer der streichholzkurze, zerknabberte Bleistift liegt. Männer tragen Siegelringe, Frauen Ohrgehänge. Eheringe machen abergläubisch, bis zum Tod nimmt man sie nicht mehr von der Hand. Wenn der Mann stirbt, übernimmt die Witwe seinen Ring und trägt ihn neben ihrem Tag und Nacht am Mittelfinger. Wie alle verheirateten Leute hat Albu seinen schmalen Ehering im Dienst an. Nur der Siegelring, scheint mir, paßt nicht zu seiner Arbeit, Schmuck und Menschen quälen. Er ist gar nicht häßlich, wenn es nicht seiner wäre, wär er schön. Auch die Augen, Wangen, Ohrläppchen an seinem Kopf. Sicher hätt Lilli gerne ihre Hände hingestreckt zum Streicheln, ihn mir als Geliebten eines Tages vielleicht vorgestellt.
Der sieht gut aus, hätte ich sagen müssen.
Lillis Schönheit konnte man auf sich beruhen lassen, was die Augen sahen, war nicht schuld, daß es verblüffte. Ihre Nase, die Halsbeuge, das Ohr, das Knie wollte man in der Verblüffung plötzlich schützen, zudecken mit der Hand, man sorgte sich, dachte an Tod. Aber nie kam mir der Gedanke, daß diese Haut einmal schrumpelt. Zwischen jung und tot fiel mir bei Lilli das Altern nie ein. Bei Albus Haut ist es da, als würde es nicht vom Fleisch herrühren. Es ist ein Dienstgrad, der ihm verliehen wurde für gute Arbeit. Nach diesem Alter kommt bei ihm nichts mehr, es bleibt bei dieser Überlegenheit, da fehlt der Tod. Ich wünsch mir ihn. Albus Schönheit ist geschneidert für Verhöre, er ist ein Makelloser, dessen Äußeres nicht in Verruf geraten will, wenn auf meiner Hand sein Speichel klebt. Vielleicht
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