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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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verbietet ihm gerade dieser Unterschied, Lilli zu erwähnen. Der zerknabberte Bleistift auf seinem Tisch paßt nicht zu ihm, zu niemandem in seinem Alter. Und Albu muß bestimmt nicht an Bleistiften sparen. Vielleicht ist er stolz, daß sein Enkelkind Zähne kriegt. Ein Foto des Enkels könnte den Stummel auf dem Schreibtisch ersetzen, nur wird es auch hier, wie in allen Büros, verboten sein, Familienbilder aufzustellen. Vielleicht ist so ein Stumpf handlich für seine steile Schrift, oder ein langer Bleistift würde an seinem Siegelring wetzen. Oder soll der Stumpf mir zeigen, wieviel über solche wie mich geschrieben wird. Wir wissen alles, sagt Albu. Mag sein, da stimme ich Lilli zu, über die Schalen der Toten vielleicht. Aber nichts über ihre Geheimnisse, über Lilli, die Albu nie erwähnt. Nichts über Glück und Verstand, die morgen etwas tun, was ich heut selber noch nicht weiß. Und nichts über den Zufall, der vielleicht übermorgen kommt, ich lebe ja...
    Es ist nichts Besonderes, daß Albu und ich zusammen den Baum ansehen. Auch meinen oder seinen Tisch, ein Stück Wand, die Tür, oder den Fußboden sehen wir gleichzeitig an. Oder er seinen Bleistift und ich meine Finger. Oder er seinen Ring und ich meinen großen Knopf. Oder er mein Gesicht und ich die Wand. Oder ich sein Gesicht und er die Tür. Sich einander ständig ins Gesicht schauen macht müde, vor allem mich. Ich traue nur den Gegenständen hier, die sich nicht ändern. Aber der Baum wächst, und die Bluse hat ihren Namen von ihm. Ich laß zwar mein Glück zu Haus, aber die Bluse, die noch wächst, ist hier.
    Wenn ich nicht bestellt bin, gehe ich auf den kleinen Straßen bis zum Korso zu Fuß in die Stadt. Unter den Akazien regnet es weiße Blüten oder gelbes Laub. Und wenn sie nichts fallen lassen, fällt nur Wind. Als ich noch in die Fabrik ging, gelang es mir höchstens zweimal im Jahr, mittags in die Stadt zu kommen. Ich wußte gar nicht, daß so viele Leute um diese Zeit nicht in der Arbeit sind. Zum Unterschied von mir laufen die alle bezahlt herum, haben im Dienst Rohrbrüche, Krankheiten, Begräbnisse erfunden und sich vor dem Spaziergang von den Vorgesetzten und Kollegen auch noch bedauern lassen. Ich hab ein einziges Mal den Tod meines Opas erfunden, weil ich mir gleich um neun, wenn die Läden öffnen, ein Paar graue Stöckelschuhe kaufen wollte. Am Spätnachmittag davor hatte ich sie im Schaufenster gesehen. Ich hab gelogen, bin in die Stadt, hab mir die Schuhe gekauft, und die Lüge ist wahr geworden. Mein Opa ist vier Tage später beim Essen tot vom Stuhl gefallen. Als das Telegramm frühmorgens ankam, hielt ich meine drei Tage alten, grauen Schuhe unter den Wasserhahn und ließ sie aufquellen. Ich zog sie an, ging ins Büro und sagte, daß ich die nächsten zwei Tage fehlen muß, weil ich Überschwemmung in der Küche habe. Wenn ich etwas Böses lüge, wird es wahr. Ich fuhr zum Begräbnis. An meinen Füßen trockneten die Schuhe den kleinen Bahnhöfen entlang, erst am elften stieg ich aus. Die Welt war verkehrt, ich trug das Begräbnis aus meiner Lüge in die Kleinstadt hinein und stand dann vor der Überschwemmung in der Küche auf dem Friedhof. Die Erdklumpen klangen auf dem Sargdeckel, wie die grauen Schuhe auf dem Gehsteig hinterm Sarg geklungen hatten.
    Damals konnte ich noch gut lügen. Kein Mensch hat mich ertappt. Aber die Not, aus der die Lüge kam, hat mich beim Wort genommen. Seither laß ich mich lieber beim Lügen erwischen als von der Not. Die Ausnahme ist Albu, da lüge ich gut.
    Ich gehe ziellos in die Stadt. In die Fabrik fuhr ich sinnlos. Kaum zu glauben, die Sinnlosigkeit versteckte sich besser in den Tagen. Wenn ich mich wie gestern an einen der Straßentische ins Café setze und Eis bestelle, möchte ich im nächsten Moment ein Stück Kuchen. Eigentlich möchte ich nur sitzen, nicht einmal das, nur eine Weile nicht gehen. Ich schieb den Stuhl näher zum Tisch, um es bequem zu haben. Wenn der Stuhl paßt, möcht ich aufspringen und weg, aber nicht schon wieder gehen. Von weitem sind die Straßentische ein Ziel, bieten sich an zum Bleiben, an den Tischtüchern flattern die Ecken. Erst wenn ich mich bequem hingesetzt hab, streckt sich die Ungeduld. Dann kommt das Eis, wenn mir der Mund schon nicht mehr ins Gesicht paßt. Der Tisch ist rund, der Eisbecher, die Eiskugeln. Dann kommen die Wespen, die zudringlich satt werden wollen, ihre Köpfe sind rund. Obwohl ich das Geld, bevor ich es ausgebe, dreimal umdrehen

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