Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
nach. Und wenn ich einer gewesen wäre, wär Lilli mir nicht entgangen. Je schlechter Lilli angezogen war, umso auffälliger war sie schön. Sie hatte es gut, ich war schon eitel als Kind. Als Fünfjährige weinte ich, wenn der neue Mantel mir zu groß war. Mein Opa sagte:
Du wirst hineinwachsen, zieh dich dicker an, dann paßt er. Früher kamen, wenns gut ging, vielleicht mal zwei, drei Mäntel auf ein ganzes Leben, und das bei reichen Leuten.
Ich schlüpfte hinein, weil ich mußte. Und hinter der ersten Ecke an der Brotfabrik zog ich ihn aus. Zwei Winter trug ich ihn mehr auf dem Arm als auf dem Rücken, ich war lieber erkältet als häßlich. Und im übernächsten Schnee, als der Mantel endlich paßte, zog ich ihn aus, weil er zu alt und häßlich war.
Wenn ich zu meiner Frisöse wollte, müßte ich jetzt zwischen den Studentenheimen aussteigen. Ich würde mir lieber Dauerwellen machen lassen oder die Krautknödelfrisur der alten Sekretärinnen. Ach was, lieber kahlgeschoren werden und mich Punkt zehn Uhr selber nicht kennen, als an Albus Tür klopfen. Den Verstand verlieren und beim Handkuß völlig irr sein. Ein Sonnenfleck heizt die Wange des Schaffners, die Scheibe neben ihm ist offen, es geht kein Wind. Er wischt die Salzkörner von seinem Pult, seinen zweiten Kipfel rührt er nicht an. Warum hat er drei gekauft, wenn er nach einem Kipfel satt ist. Die Straßenbahn stehenlassen, in den Läden herumwetzen, dann beim Wiederauftauchen den Wartenden den großen Hunger vorführen, den er gar nicht hat. Das Kind ist mit dem Taschentuch in der Hand eingeschlafen. Der Vater lehnt den Kopf an die Scheibe, obwohl sein Haar stumpf und klebrig, seit Tagen nicht gewaschen ist, leuchtet es. Die Sonne brennt einen Glanz hinein. Spürt er denn nicht, daß die Scheibe noch heißer als die Sonne draußen ist. Mich läßt sie in Ruhe, bis die Biegung kommt. Vielleicht bleibt sie auch dann auf der anderen Fensterseite, ich will nicht ganz verschwitzt bei Albu ankommen. Ich weiß nicht, ob ich mich umsetzen würde, bei so wenigen Passagieren wird man angestarrt. Man braucht einen Grund. Der Vater könnte sich jederzeit in den Schatten setzen, ein kleines Kind ist ein Grund. Wenn es weinen würde, könnte der Vater sich umsetzen und sehen, ob das Kind wegen der Sonne weint. In einem vollen Wagen ginge das gar nicht. Da wäre jeder freie Sitz gut, da könnte ein Kind noch soviel weinen, niemand würde an die Sonne denken, sondern fragen, ob der Deppenvater für den verschissenen Schreihals keinen Schnuller hat.
Im Sommer spielte ich am liebsten mit dem Sohn des Portiers der Brotfabrik im ausgefahrenen Weg hinter der Allee, dort lag der dickste Staub. Der Junge hinkte von Geburt an, er schleppte sich langsam hinter mir her. Wir setzten uns ins tiefste Schlagloch, er beugte das rechte Bein und streckte das dünne linke steif von sich weg. Er war froh, wenn er saß. Er hatte flinke Hände, geringeltes Haar und ein gelbliches Gesicht. Wir vertieften uns ins Spiel und häuften den Staub zu Schlangen, die übereinander krochen.
So kriechen die Blindschleichen durchs Mehl, sagte er, darum sind Löcher im Brot.
Nein, die Löcher sind von der Hefe.
Von den Schlangen, frag meinen Vater.
Es hätten den halben Tag, bis sein Vater mit der Tasche von der Brotfabrik nach Haus ging, immer andere Schlangen durch das Schlagloch kriechen können. Aber wenn mein Kleid dreckig war, wurde ich unglücklich und lief nach Hause. Ich ließ den Jungen mit seinen Blindschleichen allein. Zwei Wochen saß am Tor der Brotfabrik ein anderer Portier. Dann kam der Vater wieder und brachte den Jungen nicht mit. Man hatte das steife Bein operiert und den Jungen zu tief eingeschläfert. Er war nicht mehr wach geworden. Ich ging allein zu der ausgefahrenen Straße, wo die Bäume der Allee immer beieinander standen und fremdelte, als hätten sie versprochen, daß der Junge zu Hause zwar gestorben ist, aber hierher zum Spielen kommt. Ich setzte mich in den Staub und häufte eine Schlange, so dünn und lang wie sein ausgestrecktes Bein. Gefranstes Gras am Wegrand, die Tränen tropften mir vom Kinn auf die Schlange und wurden ein Muster. Man hatte mir den Jungen weggenommen, vielleicht sah er aus dem Himmel, daß ich jetzt weiterspielen wollte.
Wenn ich vormittags in der Stadt herumlaufe, hat man mir Lilli weggenommen. Mir scheinen die Tage, an denen ich bestellt bin, kurz. Auch wenn ich nicht weiß, was Albu von mir will, hat er etwas vor mit mir.
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