Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
falle, auf ein Sterbenswörtchen. Er machte es kurz, sagte:
So.
Wer weiß, warum er, statt mich an den Knien loszulassen, die Hand an meinem Nacken lockerte und mich auf den Boden ließ, und einen Schritt zurückging. Ich machte die Augen auf, sie liefen mir aus der Stirn langsam ins Gesicht zurück. Der Himmel hing rotblau und nicht mehr fest oben angewachsen, und der Fluß drehte braune Wasserspulen. Da fing ich an zu laufen, bevor er merkt, daß ich noch lebe. Ich wollte nie mehr stehenbleiben, der Schrecken hüpfte unter meinem Gaumen, ich hatte Schluckauf. Ein Mann schob sein Fahrrad an mir vorbei, klingelte und rief:
He du Süße, mach das Maul zu, sonst kühlt das Herz aus.
Torkelnd blieb ich stehen, mit weichen Beinen, schweren Händen. Ich brannte und fror und war gar nicht weit gelaufen, kaum ein Stück Weg, nur nach innen um die halbe Erde. Der Zangengriff schmerzte im Nacken, der Mann schob das Fahrrad in den Park, zwei geriffelte Schlauchspuren krochen im Sand hinter ihm, der Asphalt vor mir ganz leer. Der Park steil hinauf schwarzgrün, weil der Himmel nach den Bäumen griff. Die Brücke gab mir keine Ruhe, da mußte ich mich umsehen. Und auf der Brücke stand der Koffer mittendrauf immer noch an der Stelle, wo ich weggegangen war. Und an der, wo ich weggelaufen war vor dem Tod, stand er mit dem Gesicht zum Wasser. Zwischen den Takten meines Schluckaufs hörte ich ihn pfeifen. Hochmelodisch, ohne zu stocken, pfiff er ein Lied, das er von mir gelernt hatte. Mein Schluckauf war weg, von einem Schreck zum andern eingefroren. Ich griff mir an den Hals, spürte den Kehlkopf in der Hand hervortreten und tauchen. Das ging so schnell, wie einer sich am anderen vergehen kann. Und der dort auf der Brücke pfiff:
Ja der Baum hat ein Laub
und ein Wasser der Tee
das Geld ein Papier
und das Herz einen falschrum gefallenen Schnee.
Heute denk ich mir, zum Glück hat er mich am Nacken gepackt. So blieb ich keine Anstifterin, aber er wurde fast ein Mörder. Das kam davon, daß er mich nicht schlagen konnte und sich dafür verachtete.
Der Vater war eingenickt und hat das Kind so locker gehalten, daß ich dachte, jetzt fällt es. Da hat ihm das Kind mit den Schuhen in den Bauch gestoßen. Der Vater ist aufgeschreckt und hat das Kind auf seinen Schoß gezogen. Die winzigen Sandalen baumeln, als hätten ihm die Eltern heut morgen ein Stück von seinem Spielzeug angezogen. Neue Sohlen, die noch keinen Schritt auf der Straße waren. Der Vater hat seinem Kind ein Taschentuch gegeben, damit es sich verweilt. Es ist ein Knoten drin, und in dem Knoten muß etwas Hartes eingebunden sein, mit dem das Kind an die Scheibe schlägt. Vielleicht Münzen, Schlüssel, Nägel oder Schrauben, die der Vater nicht verlieren will. Der Schaffner hat das Klopfen schon gehört, er sieht sich um und ruft: Mach nur, so eine Scheibe kostet Geld. Hab keine Angst, sagt der Vater, wir zerbrechen sie doch nicht. Er tupft an die Scheibe und zeigt auf die Straße hinaus und sagt: Schau mal, dort ist ein Baby drin, das ist noch kleiner als du. Das Kind läßt sein Taschentuch fallen und sagt: Mami. Es sieht eine Frau mit einem Kinderwagen. Und der Vater sagt: Unsre Mami trägt keine Sonnenbrille, sonst sieht sie nicht, wie blau deine Augen sind.
Wenn Paul mich nach meinem ersten Mann fragt, sage ich:
Ich hab das alles vergessen, ich weiß nichts mehr.
Ich glaube, ich habe mehr Geheimnisse vor Paul als er vor mir. Lilli hat einmal gesagt, daß Geheimnisse nicht weg sind, wenn man sie erzählt, was man erzählen kann, sind Schalen, nicht der Kern. Bei ihr vielleicht, wenn ich nichts verschweige, bin ich doch am Kern.
Das nennst du Schalen, sagte ich, wenn etwas so weit wie auf der Brücke geht.
Aber du erzählst so, wie es dir paßt, sagte Lilli.
Wie soll es mir passen, es paßt mir überhaupt nicht.
Sicher ist es gegen dich und gegen ihn ist es auch, sagte Lilli, aber es paßt dir doch, weil du darüber reden kannst, wie du willst.
Wie es war, nicht wie ich will. Du glaubst nicht, daß ich dir sage, was du mir verschweigen würdest, darum redest du von Schalen.
Es geht doch darum, daß das Geheimnis mit meinem Stiefvater immer gleich bleibt, auch wenn ich jeden Tag darüber rede, wie ich will.
Ich will mir über den Trinker an den Mülltonnen nicht auch noch den Kopf zerbrechen. Und wer weiß, was er sich denkt, er hat mich ja auch tagelang oben im Fenster gesehen. Weil wir uns über den Trinker so lange nicht einig
Weitere Kostenlose Bücher