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Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Titel: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Müller
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gehört noch immer nicht zum Fußvolk, mußte noch keinen Tag seither arbeiten. Da er weder als Chef noch als Arbeiter zu gebrauchen war, wurde er Aufseher und ist es geblieben. Er lernte lateinische Pflanzennamen fließend hersagen wie ein Gebet. Sonntags ging er mit Frau, Tochter und Sohn spazieren, und später war auch ich dabei. Er brach sich einen kleinen, immer geraden Ast aus dem Gestrüpp, rupfte die Blätter ab und zeigte mit seinem Stöckchen am Weg auf Immergrün und sagte vinca minor, und alles was er darüber wußte. Neben einer Bank sagte er aruncus dioicus, und alles was er über den Geißbart wußte. Und auf dem nächsten Weg, epimedium rubrum und plumbagum. Neben einer Mulde wuchs seine hosta fortunei. Man mußte stehenbleiben und ihm zuhören. Mein Mann sagte, früher war er noch strenger. Wenn er oder seine Schwester lachten, sprach er tagelang kein Wort mit ihnen. Im letzten Sommer, als ich noch bei ihnen wohnte, wollte ich mir aus dem Garten hinten Margeriten für die Vase holen. Ich sah meinen Schwiegervater am Nußbaum laut mit sich reden, nicht nur mit dem Mund, mit Händen und Füßen. Er war so vertieft und bemerkte mich erst, als ich neben ihm stand. Er wußte, daß ich ihn auf dem ganzen Weg hierher gesehen haben muß, lächelte ungeniert und fragte, was ich ihn hätte fragen müssen:
    Hast du Kopfweh von der Sonne.
    Nein, ich will Margeriten pflücken.
    Geht es dir wirklich gut.
    Ja, und dir.
    Wieso mir, ich hab die Nase mitten im Gesicht.
    Ich auch, und du fragst mich trotzdem.
    Ich kann mich nicht beklagen, sagte er.
    Ich überlegte, ob es von ihm zwei Exemplare gibt. Ein ruhiges von nah, und von weitem eines, in dem die Toten lallen. Um sie zu verscheuchen, muß er die Fracht schütteln. Heimlich, wenn es geht. Wenn nicht, dann öffentlich, aber so, daß man ihn bewundert, nicht bedauert. Und wie geht das, am besten geht es im Tanzen. Wir waren allein zu Haus, ich und er. Mein Mann und meine Schwiegermutter hatten an diesem Nachmittag in der Stadt zu tun. Ich nahm mir keine Margeriten mehr, nicht aus Angst vor ihm, aber doch vor den weißen Margeriten...
    Vom Aufsagen lateinischer Namen wuchs schon damals kein Blatt auf der Welt. Außer Rosenveredeln haben seine Hände nichts gelernt. Vor zwei Jahren hatte die Gärtnerei Kränze für das Staatsbegräbnis eines Fabrikdirektors zu binden, zwanzig Kränze, groß wie Räder. Mein Schwiegervater wollte sich hervortun und etwas Besonderes flechten lassen. Er verordnete Feuerlilien und Farn statt der ewigen Nelken-Efeu-Kränze. Auf dem Heldenfriedhof wurden statt Kränzen nur braune Zotteln vom Auto abgeladen. Daß Feuerlilien in einer halben Stunde welk sind, ahnte er nach dreißig Jahren nicht. Er sollte entlassen werden, hatte jedoch die Chefingenieurin an der Hand. Achtundzwanzig Jahre jünger als er, gut gebaut und frisch von der Schule gekommen, konnte sie endlos herumrennen und besser als er kommandieren. Die Arbeitstage waren lang, der Himmel warm, der Sommer grün. Mein Schwiegervater hatte, als der Juni in den Juli ging und dichtes Laub am Holz der Sträucher wuchs, an der neuen Chefingenieurin das Grabschen angefangen. Sie war von Anfang an nicht abgeneigt. Blattläuse und Milben gab es nicht viele in dem Jahr, die beiden hatten Zeit für sich. Die Lausinspektorin hat dem Direktor versichert, daß Feuerlilien im allgemeinen langlebig sind. Daß man diesen Sommer in Fachkreisen über den südfranzösischen Mehltau spricht, der Friedhöfe heimsucht, da Schädlinge der Totenruhe wegen auf Gräbern nicht bekämpft werden. Wenn frische Schnittpflanzen in seine Nähe kommen, ist die Blüte im Nu dürr, jede. Mit Nelken wär es genauso passiert, sagte sie dem Direktor. Und der glaubte ihrer Wissenschaft, denn seine ging, obwohl er knapp vor der Rente stand, über den Unterschied zwischen Nelken und Kamillen kaum hinaus.

 
    Ich wüßte schon gerne, wieviele aus unserem Turmblock, aus den Läden unten, aus der Fabrik oder in der ganzen Stadt jemals bestellt wurden. Bei Albu muß doch täglich hinter jeder Flurtür was geschehen. Den mit der Mappe, der schnell um Aspirin gelaufen ist, sehe ich nicht im Wagen. Vielleicht hat er die Straßenbahn verpaßt, oder sie war ihm zu voll. Wenn er Zeit hat, kann er auf die nächste warten. Neben mich hat sich eine Frau gesetzt, ihr Hintern ist breiter als der Sitz, dazu hat sie noch die Beine auseinander gestellt und dazwischen eine Tasche. Ihr Schenkel wetzt an mir, sie wühlt in der Tasche und

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