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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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näherte sich dem Spalt in der Felsattrappe.
    »Was sucht ihr?«
    »Wir suchen kosmische Liebe.«
    »Isis sei mit uns.«
    Sina stieß versehentlich mit der Schulter gegen eine nackte Frau. Sie war trotz ihres vorgerückten Alters nicht unattraktiv. Sina glaubte, ihr Gesicht schon einmal auf der Leinwand gesehen zu haben. Die Schauspielerin fuhr verärgert herum und funkelte die Ruhestörerin wütend an. Sina biß sich auf die Unterlippe und deutete mit einem Kopfnicken eine Entschuldigung an. Die Augen der Frau folgten ihr voller Mißtrauen. Es schien ein schwerer Verstoß gegen die Regeln des Rituals zu sein, wenn man sich ohne Aufforderung durch den Kultraum bewegte.
    Der Zwerg beendete die Litanei mit einer letzten Frage: »Was sucht ihr?«
    »Wir suchen das Licht.«
    »Osiris sei mit uns.«
    Zwei Männer und eine Frau standen zwischen Sina und Dominik. Die vier verspäteten Kultisten, unter ihnen der Torwächter, befanden sich nun etwa dort, wo Sina bis vor wenigen Augenblicken gestanden hatte.
    Das nackte Mädchen vor den Füßen des Zwerges simulierte einen heftigen Höhepunkt und sackte dann erschöpft zusammen. Ein gefälliges Raunen ging durch die Zuschauer. Bald, so nahm Sina an, würden sie alle übereinander herfallen und keinen Gedanken mehr an die beschworenen Götter verschwenden. So war es jedesmal. Ein erbärmliches Spektakel.
    Sie sah sich erneut nach den vier Männern um – und blickte dem Torwächter genau in die Augen. Er hatte sie bereits erkannt. Ein Moment verging, in dem die beiden sich durchdringend anstarrten. Dann stieß der Wächter einen der anderen an und deutete flüsternd in Sinas Richtung.
    Sie fluchte im stillen. Genau das hätte niemals passieren dürfen. Jetzt blickten alle vier Männer zu ihr herüber, betrachteten sie von oben bis unten. Zum erstenmal schämte sie sich ihres nackten Körpers. Nur mit Mühe unterdrückte sie den Zwang, ihre Arme schützend vor Brüste und Scham zu legen. Aber den Männern ging es nicht um ihre Nacktheit.
    Aufgebracht sah sie zu Dominik und bemerkte, daß seine Hand jetzt in dem Kulissenspalt steckte. Die schale Gewißheit, daß wenigstens einer von ihnen bewaffnet war, spendete nur wenig Trost.
    Auf der Bühne stand der Zwerg immer noch mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen. Er sah aus, als sei er in Trance verfallen. Plötzlich öffnete er den Mund, sehr langsam.
    Sina hatte erwartet, daß das Mädchen am Boden die Rolle des Mediums übernehmen sollte. Statt ihrer war es nun der Zwerg, der vorgab, Geistern und Göttern als Sprachrohr zu dienen.
    Über seine grauen Lippen quoll der heisere Schrei eines kleinen Kindes.
    Keine Worte. Nur wildes, plärrendes Kreischen.
    Sina war, als gefriere um sie die Luft. Ihr Körper erstarrte. Der Zwerg stand vollkommen still, ohne sich zu rühren. Sein Mund klaffte weit und schwarz, viel zu groß für ein menschliches Gesicht. Und im Abgrund dahinter schrie das Kind.
    Dominiks Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er Sina ansah. Sie bemerkte es nur am Rande. Ihr eigener Blick war fest auf den Zwerg gerichtet. Das Kinderkreischen überrollte sie wie eine Woge, die durch alle Öffnungen in ihren Leib sprudelte und alles andere fortspülte.
    Eine Täuschung, dachte sie noch. Nur eine Täuschung! Oder?
    Sie taumelte plötzlich. Neben und vor ihr wichen die Menschen zur Seite. Hörten sie es denn nicht? Doch, natürlich. Aber die Wirkung der Schreie war auf sie eine andere.
    Sina spürte, wie der Boden unter ihr absackte. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte nach vorne. Im letzten Moment fingen zwei Hände sie auf. Dominik, dachte sie dankbar, als man sie sanft zu Boden ließ.
    Aber es war nicht Dominik, und sie bemerkte es nur Sekunden später. Als sie aufblickte, sah sie direkt in die Augen des Torwächters. Die schwarzen Flecken in ihrem Blickfeld füllten sich allmählich mit weiteren Gesichtern. Sie alle starrten auf sie herab. Und das Kinderkreischen umwaberte sie wie Nordlichter, verschleierte ihre Züge, blendete Sinas Blicke.
    Alles um sie drehte sich. Jemand schrie, kein Kind. Brüllte auf vor Wut und Entrüstung.
    Das Jammern des Neugeborenen floß jetzt in eine feste Form, wie Zinn, das in Wasser zu grotesken Figuren erstarrt. Silben schälten sich aus dem hochtönenden Kreischen. Schrille Worte. Hilfeschreie.
    Dann peitschte ein Schuß. Weit entfernt.
    Die Gesichter über ihr vermengten sich zu glühenden Kreisen, Fleischräder, die leuchtende Spuren zogen.
    Noch ein Schuß.
    Noch mehr

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