Hex
Worte. Sina konnte sie deutlich verstehen. Ich verliere den Verstand, dachte sie.
Aber sie wußte auch, daß es für den einfachen Ausweg zu spät war.
Jemand rief ihren Namen. Immer wieder. Dominik.
»Sina! Wach auf, bitte!«
Schmerz auf ihrer Wange. Einmal, zweimal.
Und wieder: »Sina, wach auf! Du mußt aufwachen!«
Ich bin doch wach, wollte sie sagen. Bin doch wach. Bin wach.
»Sina!«
Sie schlug die Augen auf. Oder, nein! Ihre Augen waren längst offen. Es war das Licht, das sie plötzlich wahrnahm, und mit ihm die Farben.
Ein Gesicht. Rosig wie ein Kind, im ersten Augenblick. Dann wurden die Farben wahrhaftiger, zerflossen zu ihren natürlichen Tönen, gewannen an Kontrasten, Schattierungen, an Textur.
Dominiks Gesicht über ihrem. Er hatte nichts an. In ihrem Mund war ein entsetzlicher Geschmack, aber sie war sicher, daß sie nichts getrunken hatte. Nicht so viel, daß er sie herumbekommen hätte. Aber warum trug er keine Kleidung? Und sie selbst?
Das letzte Mal war ihr das vor knapp einem Jahr passiert, nicht mit Dominik und auch nicht so, wie es in den Büchern stand. Sie hatte sich sehr wohl an den Namen des Mannes neben ihr im Bett erinnern können. Tatsächlich war die Erinnerung mit der Zeit viel lebhafter geworden, als sie es sich wünschte. Die wahre Leere im Kopf war ein Versprechen, das der Geist nicht einlöste.
»Du mußt aufstehen!« schrie er sie an. »Steh doch auf, verdammt!«
Er wirkte zornig, aber sie wußte, daß Zorn für Dominik nur eine Maske war, hinter der er seine Hilflosigkeit verbarg. Wirkliche Wut war ihm fremd.
Er zerrte sie auf die Beine. Zu ihrer eigenen Überraschung hielt sie sich recht ordentlich auf den Füßen. Sogar als er sie antrieb, mit ihm zu kommen.
Mit jedem Bruchstück der Umgebung, das sie erkannte, kehrte auch die Erinnerung zurück. Sie wußte jetzt wieder, wo sie sich befand. Auch wie sie hierher gekommen war und was danach geschehen war. Bis zu einem gewissen Punkt. Die Menge, der Zwerg, das Kind. Die Schreie, Schreie, Schreie.
»Wo sind die alle?« fragte sie, während sie nackt durchs Dunkel rannten. Vorbei an den Kulissen, an der Freitreppe vorüber zum Ausgang. Dominik bückte sich und packte blind in einen zerwühlten Berg von Kleidern. Zwei Hosen, Hemden, irgendwas.
»Zieh das an, schnell!«
Nichts paßte, aber irgendwie schlüpfte sie trotzdem hinein. Dann stürmten sie ins Freie, hinaus in die Nacht. Irgendwo jaulte eine Alarmsirene auf. Hunde kläfften im Dunkeln, nicht mehr allzu weit entfernt.
Sie erinnerte sich an die Schüsse.
»Hast du geschossen?« fragte sie.
»In die Luft. Was war mit dir? Du hast geschrien.«
Geschrien? Sie selbst? Davon wußte sie nichts mehr.
»Ich bin... bewußtlos geworden.« Vor ihnen kam das Haupttor in Sicht. Es stand einen Spaltweit offen. Die bestochenen Wächter – oder jene, die selbst bei der Zeremonie gewesen waren – hatten für eine Möglichkeit zur Flucht gesorgt. Die übrigen Kultisten waren längst fort.
»Bewußtlos, ja«, sagte Dominik im Laufen, und es klang nachdenklich. »Den Eindruck hatte ich auch. Aber das war nicht alles, oder?«
»Was meinst du?« fragte sie und wußte natürlich ganz genau, was er meinte. Aber sie würde den Teufel tun, ihm die Wahrheit zu sagen.
Sie zwängten sich durchs Tor, im selben Augenblick, da hinter ihnen drei Schäferhunde aus den Schatten sprangen. Am Ausgang aber blieben die Tiere stehen, so, wie es ihre Abrichtung gebot. Sie durften das Ateliergelände nicht verlassen.
Hundert Meter weiter die Straße hinunter stand Dominiks Automobil. Eines seiner Automobile. Er zündete bereits den Motor, als Sina sich auf den Beifahrersitz zwängte.
Sie sprachen erst wieder, als die ersten Kilometer hinter ihnen lagen. Mit dröhnendem Motor raste der Wagen Richtung Wannsee und Berlin.
»Also, was war los?« fragte er noch einmal. Sein hübsches Gesicht glänzte vor Schweiß, und das blonde Haar war strähnig.
»Es ging mir nicht gut, reicht das als Antwort?« Die Erschöpfung nahm ihr den Willen, sich seiner Sorge zu widersetzen.
Zweifel schärften seine Stimme. »Es ging dir nicht gut?«
»Ja, genau.«
»Macht es dir was aus, dieses Unwohlsein etwas näher zu beschreiben?« Er klang ein wenig beleidigt.
»Frauenbeschwerden, du weißt schon.«
»Mach’s dir nicht zu einfach.«
Sie sah ihn scharf an. »Ach, verflucht, Dominik – ich möchte nicht darüber sprechen. Einverstanden?«
»Nein.« Er sah sie an und begegnete ihrem entschlossenen
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