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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Hand hielt er ein Zentimetermaß, mit dem er penibel die Höhe der einzelnen Absätze ermittelte. Die Zahlen trug er in ein Notizbuch ein.
    »Max«, rief Dominik ihm zu, »wenn mein Vater dich sieht, wird er wahnsinnig.«
    Max von Poser blickte kurz auf, runzelte die Stirn, als er Sina neben seinem Freund erblickte, und widmete sich erneut seinen Stufenmaßen. »Hat er schon und ist er schon.«
    Sina beobachtete ihn mißbilligend. »Sieht aus, als wäre das eine wirklich wichtige Sache, die du da machst.« Sie kannte Max ebenso lange wie Dominik, aber sie mochte ihn nicht besonders. Nein, das stimmte nicht; es war nicht er selbst, sondern seine eigentümliche Arbeitsmoral, die sie ablehnte. Besser: die Tatsache, daß er es vorzog, sich mit Treppenkunde zu befassen, statt Kultisten aufzustöbern, wie es seine Aufgabe war.
    »Schön, daß du soviel Verständnis dafür aufbringst.« Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er Sina für unqualifiziert hielt, sich über seine Tätigkeit zu äußern.
    »Ganz bestimmt gibt es einen Zusammenhang zu einem Fall, den du gerade bearbeitest, nicht wahr?« entgegnete sie lakonisch.
    »Nicht den geringsten.«
    Dominik, der ahnte, daß ein neuer Streit zwischen den beiden bevorstand, ergriff das Wort. »Sina, geh doch schon mal vor. Wir treffen uns im Büro meines Vaters.«
    Sie schnaubte abfällig. »Ich will erst noch ins Archiv.«
    »Tu das.«
    Sina machte einen Bogen um Max und stieg die Stufen hinauf.
    Er rief ihr hinterher: »Du machst es genauso wie alle anderen.«
    Mit einem Ruck fuhr sie herum. »Wie bitte?«
    Max strahlte sie entwaffnend an. »Wie du die Treppe hochgehst. Ich hab’s ausgemessen. Kein Mensch geht den gerade Weg, nicht einmal du, wo du’s doch so eilig hast, zur Arbeit zu kommen.«
    »Ich hab’ nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.«
    Er deutete auf seine Aufzeichnungen, während Dominik hinter ihm entnervt die Augen verdrehte. »Ich hab’ die Steigspur der Treppe ermittelt. Den genauen Weg, den man benutzt, wenn man hinaufgeht. Man sollte doch meinen, daß jeder Mensch die kürzeste, also die gerade Strecke wählt. Aber so ist es nicht. Die Steinstufen sind völlig ausgetreten, und anhand der Höhe läßt sich nachvollziehen, wie sie während der letzten hundert Jahre benutzt worden sind. Mal ist eine Stufe rechts eingekerbt, mal links. Das bedeutet, daß wir die Treppe unbewußt im Zickzack hinaufgehen. Und das hast du gerade bewiesen.«
    Sina schüttelte verständnislos den Kopf. »Schreib das in deine Abhandlung, wenn du willst, aber laß mich damit in Ruhe.«
    »Tatsächlich ist es ein philosophisches Problem.« Max ließ nicht locker. »Die Art und Weise, wie wir Treppen steigen, beweist die Unfähigkeit des Menschen, in geraden Bahnen zu denken. Der Mensch ist einfach nicht für den kürzesten Weg geschaffen. Unser Leben verläuft in einer Schlangenlinie.«
    Sina, halb amüsiert, halb verärgert, sah aus dem Augenwinkel, wie sich der Pförtner hinterm Ohr kratzte. Sie selbst hatte sich an die eigenwilligen Theorien ihres Kollegen längst gewöhnt. Trotzdem brachte sie keine Geduld dafür auf.
    Mit einem Stoßseufzer drehte sie sich um. »Ich bin im Archiv, falls mich jemand sucht.«
    Sie glaubte zu hören, wie Max hinter ihr lachte, und das irritierte sie nur noch mehr. Zögernd gestand sie sich ein, daß sie nicht einmal seinen Humor verstand, geschweige denn ihn selbst.
     
    Max setzte sich auf die Stufe, die er zuletzt vermessen hatte, und blickte zu Dominik auf. Er wußte genau, was jetzt kam. Bester Freund hin oder her, Dominik war trotz allem der Sohn seines Vaters. Der Sohn des Alten, ihres Vorgesetzten.
    »Er wird dich nicht rauswerfen«, sagte Dominik leise. »Ganz gleich, wie sehr du ihn reizt. Er hat es deinem Vater versprochen.«
    Max nickte betont. Auch das wußte er. So wie er und Dominik befreundet waren, so waren es auch ihre Väter, wenn auch auf einer anderen, gesellschaftlichen Ebene. Man begegnete sich auf Bällen, bei Galaempfängen und Opernpremieren. Das war nicht immer so gewesen, aber seit einigen Jahren war die Freundschaft der beiden alten Männer in Manierismen erstarrt.
    »Ich will gar nicht, daß dein Vater mich aus dem Hex wirft«, entgegnete Max. »Solange er mir meine Freiheiten läßt, gefällt es mir hier ganz ausgezeichnet.«
    »Treppenkunde ist nicht gerade der Grund, weswegen du hier bist«, meinte Dominik, aber es klang nicht wirklich vorwurfsvoll. Früher hatte er es mit Appellen an Max’

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