Hex
Blick. »Aber ich werde mich damit abfinden müssen, nicht wahr?«
»Sieht ganz so aus.« Sie schaute auf die finstere Straße und bot ihm ihr Profil dar: zerzauster Pony, Stupsnase, geschwungene Lippen. »Sei lieb und setz mich zu Hause ab.«
»Meine Wohnung ist näher.«
»Ist ein toller Zeitpunkt für ein Rendezvous.«
»So hab’ ich das nicht gemeint.«
Sie unterdrückte ein Seufzen. »Ja, ich weiß.« Er wollte nur nett sein, und sie spielte wieder mal das Biest. Wie meistens in seiner Nähe. »Bring mich trotzdem nach Hause. Ich bin hundemüde, und mir ist schlecht.«
»Sicher«, sagte er nur.
Sie spürte seine Enttäuschung, nicht über die Abfuhr, sondern weil sie ihm nicht vertraute. Aber sie war zu schwach, sich zu entschuldigen, und ihr fehlte sogar die Kraft, ihm zuzuhören.
»Sehen wir uns morgen?« fragte er später, als der Wagen anhielt. »Wegen des Berichts, meine ich.«
Sie glaubte, daß sie ihm eine Antwort darauf gab, aber schon wenig später war sie dessen nicht mehr sicher. Das Kindergeschrei im Abgrund des Zwergenschlundes hallte noch immer in ihren Ohren.
Dann lag sie im Bett und wünschte sich, sie könnte einen Stein in diesen Abgrund werfen und darauf horchen, wie tief er war.
Kapitel 2
Von der Straßenbahnhaltestelle aus waren es noch drei Kilometer bis zur Villa, trotzdem entschied Sina sich, das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Sie hätte eine der Droschken nehmen können, die am Straßenrand auf Fahrgäste warteten, aber die Vorstellung, die frische Morgenluft gegen den Gestank von Pferdedung einzutauschen, war ihr zuwider.
Sie hatte die Hälfte der Strecke bereits zurückgelegt, als neben ihr ein Wagen bremste.
»Guten Morgen«, rief Dominik durchs Beifahrerfenster. »Spazierfahrt gefällig?«
»Spielst du jetzt Schutzengel?« Ihr grober Tonfall tat ihr gleich darauf leid. Sie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und sah an seinem Grinsen, daß es gelang. »Wenn du mir versprichst, keine Fragen zu stellen, darfst du mich mitnehmen.«
»Es ist mir eine Ehre, Madame.«
»Das erwarte ich.«
»Selbstverständlich.«
»Freilich.«
»Gewiß.«
Sie stieg ein. »Sei still und gib dich geschlagen.« Es war eine alte Gewohnheit zwischen ihnen, nach Synonymen für die Worte des anderen zu suchen. Sie spielten dieses Spiel, seit sie sich kannten, seit drei Jahren. Meistens war er es, der gewann. Der Meister des letzten Wortes.
Die Villa stand auf einer seichten Anhöhe mit Blick auf den Halensee. An stillen Tagen war die Jahrmarktsmusik vom Luna-Park bis hierher zu hören. Aus den Fenstern des obersten Stockwerks konnte man am anderen Ende des Sees die expressionistischen Dekorationen des Vergnügungsparks erkennen. Sina war ein paarmal dort gewesen, wenn einer ihrer Verehrer sie eingeladen hatte, weil er es romantisch fand, sie im eisigen Durchzug der Riesenrad-Kabinen zu befingern. Ihr war das nur recht; es fiel ihr leichter, nein zu sagen, wenn sie fror.
Ein Schild neben der Gartenpforte wies das Gebäude als Sitz einer obskuren Handelsgesellschaft aus. In Wahrheit hatte sich das Hex hinter der grauen Stuckfassade eingerichtet. Von der Straße aus war das Gebäude kaum zu sehen, so dicht wuchsen die riesigen Fliederbüsche und Nadelbäume, die das Anwesen umgaben. Die Villa lag ein wenig abseits der übrigen Häuser. In der Nachbarschaft lebten vornehmlich Industrielle und begüterte Kaufleute, die die Inflation von 1923 heil überstanden hatten. Jeder dieser Familiensitze war von weitläufigen Gärten umgeben, manche gar von regelrechten Parks. Es war eine ruhige Gegend, ein Vorzug, der die schlechte Anbindung an den Schienenverkehr der Hauptstadt aufwog.
Der Weg vom Gartentor durch die wildwuchernden Büsche führte zu einer Veranda, die man, vielleicht nachträglich, dem eigentlichen Haus vorangebaut hatte. Der Fliederduft hing süß und schwer in der Luft, und in den Ästen veranstalteten Spatzen ein wüstes Pfeifkonzert.
Sina und Dominik stiegen die Stufen zur Veranda empor und betraten die Eingangshalle. Der schweigsamer Pförtner hatte sie längst durch ein verborgenes Guckloch neben der Haustür identifiziert.
»Sieh dir das an«, flüsterte Sina, als sie mit zügigen Schritten das Foyer durchquerten.
Dominik folgte ihrem Blick und grinste, als er sah, was sie meinte.
Auf halber Höhe der Treppe, die an der Rückseite der Halle nach oben führte, hockte ein dunkelhaariger junger Mann. Auf Knien rutschte er auf den breiten Stufen hin und her. In einer
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