Hex
der Daumen trafen sich, stießen zusammen. Und dann wurde die Nacht zum hellsten Tag, alles war weiß wie das Gletschereis, wenn die Sonne darauf glitzert. Die Geister schrien auf vor Schmerz. Niemals zuvor wurde hier ein solcher Laut gehört. Dann waren Mond und Daumen verschwunden und mit ihnen das Eis darunter.«
Sina wartete einen Augenblick, dann fragte sie: »War das alles?«
Der Architekt sprach zu dem Angakkoq, dann nickte er. »Ja.«
Legrand ergriff das Wort. »Was ist das für ein Gerede über einen zweiten Mond?«
Sina und Max sahen einander an. Die Frage war, ob die Bestätigung, daß tatsächlich eine Scheibe dagewesen war, der Theorie vom geschmuggelten Sprengstoff widersprach. Nicht unbedingt, fand Sina; obgleich sie die merkwürdige Form des Kraters, seine präzise abgeschnittenen Ränder, nach wie vor stutzig machten.
Sie wollte gerade etwas zu Max sagen, als Legrand plötzlich die Taschenlampe packte, die an seinem Gürtel hing. Er schaltete sie ein und sprang drei Schritte vor in die Dunkelheit. Der Lichtschein fiel auf das zerfurchte Gesicht des Schamanen – und auf seine Augen. Sie waren so weiß wie Schneekugeln.
»Dieser Mann ist blind!« rief der Franzose aus und deutete anklagend auf Lattuada. »Man versucht hier, Sie beide nach Strich und Faden zu betrügen.«
Der Angakkoq saß stocksteif da und rührte sich nicht. Lattuada wollte zornentbrannt vorspringen und Legrand packen, doch Sina hielt ihn am Arm zurück. »Warten Sie!« Statt seiner trat sie vor, riß dem Franzosen die Lampe aus der Hand und löschte sie. »Sie haben doch gehört, was Signor Lattuada eben erklärt hat. Der Angakkoq sieht nicht mit seinen Augen, sondern mit seinem Geist. Es ist unbedeutend, daß er blind ist.«
Nicht nur Legrand, auch Max blickte sie völlig entgeistert an. Aber er wußte es besser, als ihr jetzt in den Rücken zu fallen. Sina hatte schon immer mit diesen Dingen geliebäugelt.
Der Franzose starrte ihr einen Moment lang fest in die Augen, dann wandte er sich wortlos ab und lehnte sich gegen die Wand neben dem Eingang. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sagte kein Wort mehr. Dabei umklammerte seine linke Hand den rechten Oberarm; wahrscheinlich hatte der Ruck, als Sina ihm die Lampe entriß, seine Wunde abermals aufbrechen lassen.
Sie bemerkte es, dachte aber nicht daran, sich zu entschuldigen. Vielmehr wäre es an Legrand gewesen, die Verzeihung des Angakkoq zu erbitten. Aber natürlich tat er nichts dergleichen.
Schließlich verließen sie die Hütte. Lattuada bot ihnen an, die Nacht im Lager zu verbringen. Er sei froh, ein paar neue Gesichter um sich zu haben, und er würde sich freuen, noch ein wenig mit ihnen zu plaudern. Legrand wetterte vehement dagegen, und obgleich Max und Sina zögerten, gab die Wut des Franzosen doch den Ausschlag, Lattuadas Angebot anzunehmen. Der Italiener erklärte sich bereit, einen Hundeschlitten zu ihrem Führer auf der anderen Seite des Kraters zu schicken, der dem Mann ausrichten solle, er müsse nicht länger auf die drei Europäer warten. Morgen könne sie dann einer der Lagerschlitten zurück nach Ittoqqortoormiit bringen.
Als die Inuitarbeiter mitbekamen, daß die Gäste bis zum nächsten Tag bleiben würden, scharten sie sich erneut um sie und redeten wild auf sie ein.
»Was wollen sie?« fragte Max in Lattuadas Richtung.
Der Architekt stieß ein leises Lachen aus. »Sie laden Sie ein.«
»Wozu?« wollte Sina wissen.
»Es gibt bei den Inuit eine Art Fest oder Ritual, wie immer man es nennen will. Sie feiern es häufig und überaus gern. Übersetzt bedeutet sein Name soviel wie ›Löschen der Lampen‹.«
»Und sie laden uns ein, daran teilzunehmen?«
»So ist es. Das gilt als große Ehre.«
Legrands Mundwinkel zuckten. »Ich fühle mich ungemein geehrt.«
Der Italiener lächelte freundlich. »Sie sind leider nicht eingeladen. Nur Ihre beiden Freunde.«
Legrand rammte trotzig beide Hände in die Taschen und stiefelte voraus zu Lattuadas Hütte.
»Ist das wahr?« fragte Sina amüsiert. »Haben sie wirklich nur uns beide eingeladen?«
»Lassen Sie sich nicht vom fröhlichen Geschnatter der Inuit täuschen. Diese Leute sind große Menschenkenner. Sie wissen auf Anhieb, wem sie trauen können und wem nicht.« Der Architekt blickte Legrand nach und sah zu, wie der Franzose in der Hütte verschwand. Danach drehte er sich abermals zu Max und Sina um. »Es gibt noch etwas, über das ich mit Ihnen sprechen möchte. Ohne ihn, wenn es Ihnen
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