Hex
Umgebung begann zu verschwimmen. Sie taumelte gegen eine Wand, zuckte aber zurück, als die Kälte des Eises ihre Kleidung durchdrang.
Wo war Legrand? Wo, verdammt, steckte er? Tausend mögliche Gefahren stürmten auf sie ein; alle sah sie greifbar vor sich, und doch war keine real. Warum war sie von den Feuern fortgelaufen? Max hätte ihr helfen können. Aber auch er war nirgends zu sehen.
Sie erreichte den Rand des Lagers und blickte über die Eisebene zum Krater hinüber. Mondlicht färbte die harte Schneeoberfläche grau, aber jenseits der Eiskante, dort, wo die Explosion den Schnee hatte verdampfen lassen, herrschte undurchdringliche Schwärze, dunkler noch als der sternengesprenkelte Nachthimmel. Es war, als habe sich dort ein bodenloser Abgrund in der Erdkruste aufgetan.
Ihr schwindelte. Sie wollte umdrehen und zurück zu den Feuern gehen, aber ihr Schein war erloschen. Die Finsternis zog sich wie Vorhänge aus Samt um sie zusammen. Ohne Orientierung lief sie los, dorthin, wo sie Max und die anderen vermutete. Aber als sie wieder zu sich kam und ihre Sicht sich abermals schärfte, da erkannte sie, daß sie nur noch weiter vom Lager fortgelaufen war, direkt auf den Kraterschlund zu. Wenige Schritte vor ihr löste sich der Boden in Schwärze auf.
Dort regte sich etwas, gleich vor ihr an der Eiskante. Ein Teil der Sterne erlosch über dem Abgrund, als sich etwas Dunkles über den Kraterrand hinaus aufs Eis schob. Ein Umriß mit Armen und Beinen, eine schwarze Silhouette vor den Gestirnen. Der ersten Gestalt folgte eine zweite, dann eine dritte.
Sinas betäubte Sinne waren noch klar genug, um die Gefahr zu erkennen. Sie warf sich herum und floh. Ihre Stiefel durchbrachen die Eiskruste wie dünnes Glas. Sie stolperte erneut und fiel zu Boden. Eiskristalle bissen schmerzhaft in ihr Gesicht.
Etwas packte sie. Finger zogen sie zurück, drehten sie auf den Rücken. Sie war viel zu erschöpft, um sich zu wehren. Die drei Gestalten beugten sich über sie. Ausdruckslose Gesichter, männlich, ungewöhnlich blaß, musterten sie ohne Teilnahme. Alle drei trugen schwarze Brillen, ebensolche Hüte und – gewöhnliche Straßenanzüge! Keine Schneekleidung, nicht einmal Mäntel. Nur schwarze Hosen und Jacken. Im fahlen Glanz, den das Eis reflektierte, sahen sich ihre Gesichter ungemein ähnlich. Sina schob es auf ihre Angst und Verwirrung, und doch war ihr, als beuge sich dreimal der gleiche Mann über sie!
Sie hielten sie nicht am Boden fest, aber ihr fehlte der Wille, sich aus eigener Kraft zu erheben. Plötzlich war ihr alles gleichgültig. Die Männer standen einfach nur da, unempfindlich gegen die beißende Kälte und den Wind, der über die Ebene peitschte. Und das, obwohl ihre Anzüge nicht den mindesten Schutz boten.
Einer streckte die Hand aus und legte den Zeigefinger sanft auf Sinas Stirn.
Mit der Berührung kam die Vision.
Ein Sturmwind toste von Norden heran und mit ihm eine große Wolke, ringsum von Lichterglanz umgeben, und Feuer, lodernd, mit einem weißglühenden Kern inmitten der Glut. Darin wurde etwas sichtbar, vier Wesen mit menschlichen Körpern. Jedes aber besaß vier Flügel und ebenso viele Gesichter, die in unterschiedliche Richtungen blickten; ein Mensch, ein Löwe, ein Stier, ein Adler. Ihre Beine endeten in Kälberfüßen, die Hände unter den Schwingen waren menschlich. Blitze schossen zwischen ihren Fingern, Flügeln und Köpfen umher, Flammen umloderten sie, und sie kamen näher und näher und immer noch näher...
Eine Hand klatschte in Sinas Gesicht, einmal, zweimal. Sie öffnete die Augen. Sie lag im Schnee, und es war tiefste Nacht. Die drei Männer waren verschwunden. Statt ihrer beugten sich Max und Legrand über sie. Max hatte sie geschlagen, damit sie erwachte.
»Kannst du aufstehen?« fragte er besorgt und griff bereits nach ihrem Oberarm, um sie hochzuziehen.
Vergeblich versuchte sie ihn abzuschütteln. Auch das Aufstehen wollte nicht recht gelingen. Am Ende zogen die beiden Männer sie auf die Füße und stützten sie während des ganzen Weges zurück zum Lager.
Sie brachten sie in die Hütte des Architekten, der sogleich sein Bett für sie räumte. Zwischen Fellen und Decken kam sie zur Ruhe. Allmählich kehrte ihre Erinnerung zurück und mit ihr ihre Kraft. Wenig später kam eine Inuitfrau herein und wollte ihr dampfenden Tee einflößen, aber Sina bestand darauf, den Becher selbst zu halten. Es gelang ihr, aber ihre Finger zitterten und bebten, und wenn sie die Augen
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