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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wahrscheinlich schon mehr als eine Gelegenheit dazu gehabt. Ich an Ihrer Stelle würde ihn vorerst weiter beobachten. Warten Sie ab, und halten Sie die Augen offen.«
    Schweigend und in düstere Gedanken versunken gingen sie zurück zum Lager. Dort erwartete sie ein ungewohnt fröhlicher Legrand, klopfte ihnen kumpelhaft auf die Schultern und fragte vergnügt, ob sie es denn überhaupt noch bis zum Abend aushalten könnten vor Spannung. Es gab keinen Zweifel, daß er zwischenzeitlich in Erfahrung gebracht hatte, um was es beim Lampenlöschen ging.
    Sie baten ihn trotzdem nicht, es ihnen zu erklären.
     
    Es begann nach Einbruch der Dunkelheit. Alle Inuit des Lagers hatten sich auf einem engen Platz zwischen den Hütten eingefunden. Zahlreiche Feuer brannten und spendeten Wärme. Die Enge der gedrängten Leiber hielt den schneidenden Polarwind ab. Viele der Eskimofrauen hatten sich das lange schwarze Haar hochgesteckt und Ketten hineingeflochten. Auch die Männer trugen Schmuck, Reifen und Gehänge aus Knochen und Zähnen ihrer Jagdbeute.
    Obgleich sie versuchten, es sich nicht anmerken zu lassen, hatten Sina und Max kaum Augen für das fröhliche Spektakel. Selbst als einige der Männer und Frauen laute, fremdartige Gesänge anstimmten, die schließlich in einen ekstatischen Trommeltanz übergingen, warfen die beiden immer wieder verstohlene Blicke zu Legrand hinüber, der außerhalb der Lichtkreise neben einem Zelt aus Tierhäuten stand und das Treiben mit verschränkten Armen beobachtete. Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Vielleicht war es auch nur das Zucken des Feuerscheins, das diesen Eindruck erweckte.
    Lattuada war verschwunden. Sina nahm an, daß er sich in seine Hütte zurückgezogen hatte und über neue Bauprojekte grübelte. Sie bemühte sich, einen klaren Kopf zu behalten und ihr weiteres Vorgehen zu überdenken, doch der tosende Trommelwirbel der Inuit vertrieb jeden klaren Gedanken. Sie sah, daß die Frauen vielfarbige Pulver in die Flammen streuten, und bald schon waren sie von einem süßlichen, blumigen Duft umgeben. Aus Lederschläuchen und Glasflaschen wurde Alkohol ausgeschenkt. Auch Max und Sina wurden Becher aus gegerbtem Leder aufgedrängt, an denen sie höflich nippten.
    Immer wieder winkten die Inuit ihnen aufmunternd zu, sich an ihren ausgelassenen Tänzen zu beteiligen. Es wurde von Mal zu Mal schwerer, sich ihrer Aufforderungen zu erwehren, ohne die Regeln der Gastfreundschaft zu mißachten. Die wogenden Düfte und das starke, wohlschmeckende Getränk begannen, ihre Sinne zu benebeln, und Sina wünschte sich, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Zugleich aber machte sich eine gefährliche Gleichgültigkeit in ihr breit, die sie von früheren Anlässen kannte. Von wilden Partys, die meist damit geendet hatten, daß sie sich von irgendwem nach Hause bringen ließ. Aber das war vorbei. Sie hatte mit diesem Teil ihres Lebens abgeschlossen, vor Monaten schon.
    Und doch erweckte der bunte Trubel, die Wirkung des Alkohols und die betörenden Dämpfe das alte Verlangen in ihr. Sie spürte, wie ihre guten Vorsätze in den Hintergrund ihres Denkens gedrängt wurden, zurück in die Mottenkiste der Moral. Die alte Sina stand kurz vor der Wiedergeburt.
    »Geht’s dir nicht gut?« fragte Max. Sein Gesicht vor ihrem brachte sie für einen Augenblick wieder zur Besinnung. Sie sah, wie immer mehr Inuit in Paaren, aber auch kleinen Gruppen in Hütten und Zelten verschwanden. Die ersten Feuer wurden gelöscht. Zwei Inuitmänner, einen halben Kopf kleiner als Sina, forderten sie auf, sich mit ihnen in eine der Hütten zurückzuziehen. Mit empörten Gesten lehnte sie ab und sprang auf.
    »Ich muß hier weg.« Ihre Stimme klang so schwach, daß sie hoffte, der Wind würde die Worte zu Max hinübertragen.
    Er wollte etwas erwidern, als gleich vier Inuitfrauen an seinen Armen zerrten. Sie abzuwehren nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und als er sie endlich losgeworden war und sie sich schmollend zurückzogen, war Sina fort.
    Aufgebracht und ziellos irrte sie durchs Lager, plötzlich ein Irrgarten aus Eiswänden, trockenen Tierhäuten und Holzgittern. Aus vielen Behausungen drangen die Laute der Inuit, die miteinander den sexuellen Höhepunkt des Lampenlöschens begingen. Sina preßte ihre Hände auf die Ohren, stolperte, stürzte, rappelte sich wieder auf und taumelte weiter.
    Etwas stimmte nicht mit ihr. Das war mehr als Trunkenheit und die Wirkung der betörenden Düfte. Die

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