Hex
gibt hier keine Sonntagsspaziergänger. Wer sich in diese Gegend verirrt, der kann das nur aus einem einzigen Grund tun.«
Max sah ihn zornig an. »Sie haben es ihnen gesagt, nicht wahr?« fragte er scharf.
Der Pilot winkte ab. »Ach, hören Sie auf. Glauben Sie denn, das wüßte nicht ohnehin jeder, der in dieser Gegend lebt? Erst die Explosion, dann zwei Ausländer, die mitten in den Krater fahren wollen. So was spricht sich hier draußen innerhalb von Stunden herum.«
Auch Sina gefiel es nicht, daß der Franzose den Inuit gegenüber so offenherzig war, obgleich sie nicht annahm, daß ihnen von den beiden Männern eine Gefahr drohte. Auch der ominöse Eisarchitekt konnte schwerlich mehr sein als ein harmloser Spinner. »Ich meine, wir sollten den beiden folgen«, sagte sie.
Max schwieg einen Augenblick, dann stimmte er zu: »In Anbetracht der Kälte, einverstanden.«
Legrand zuckte nur mit den Schultern, als wollte er sagen: Na, also – warum nicht gleich so? Wohlweislich sprach er es nicht aus.
Die Inuit gingen voraus und führten sie über Wege, die sehr viel leichter begehbar waren als ihre eigene Route auf dem Hinweg. Wahrscheinlich hatten die Eingeborenen das Gebiet längst erforscht und wußten, welche Strecken passierbar waren und auf welchen Wegen Gefahr drohte.
Gegen ein Uhr mittags erreichten sie den Ostrand des Kraters. Und wieder fiel ihnen auf, daß die Schmelze mit der Präzision eines scharfen Messers eingetreten war. Auch hier endete das Eis abrupt. Die Hitze mußte von einem Meter auf den anderen verpufft sein. Auch war die mannshohe Eisschicht am Rand nicht abgesackt, als sei die gesamte Wärmeentwicklung nur für wenige Sekunden spürbar gewesen und unmittelbar danach wieder in arktische Kälte umgeschlagen. Sina hatte noch nie von einem Sprengstoff gehört, dessen Wirkung sich so präzise kontrollieren ließ.
Das größte Wunder aber erwartete sie erst, als sie über eine künstlich gehauene Treppe die Oberfläche des Eises betraten. Die Inuit führten sie um einen hohen Schneewall, hinter dem sich, so erklärten sie Legrand, das Lager des Eisarchitekten und seiner Eskimoarbeiter befand.
Sie waren kaum um den Wall getreten, als sie vor Staunen und Verblüffung stehenblieben. Dort stand, vollständig aus Eis geformt, eine griechische Akropolis. Rund herum kauerte eine Vielzahl von Hütten, manche aus Holz oder Wellblech, die meisten aber aus purem Eis.
Max wandte sich an Legrand. »Was wissen Sie über diesen Architekten?«
Der Franzose hob eine Hand und kratzte sich im Nacken. »Ich muß passen, tut mir leid.«
»Sie sind Ihr Geld wirklich wert.«
Legrand fuhr ungehalten auf. »Sie haben mich als Übersetzer und als Pilot angeheuert. Von einer Fremdenführung war niemals die Rede.«
»Hört schon auf!« Sina warf ihnen ungehaltene Blicke zu.
Die Inuit bedeuteten ihnen mit Gesten weiterzugehen. Atemlos und unfähig, die Blicke von dem riesigen Eismonument zu lösen, folgten die Europäer ihren Führern. Der Anblick war überwältigend. Mit jedem Schritt, den sie sich dem Lager näherten, erkannten sie mehr und mehr Details der gewaltigen Akropolis. Eine Gruppe Inuitfrauen und Kinder kam auf sie zugelaufen, und bald umgab sie ein wildes Durcheinander aus Geschnatter, lachenden Gesichtern und Begrüßungsgebärden. Die Eskimos schienen ein äußerst gastfreundliches Völkchen zu sein.
Aus einer Hütte kam ihnen ein Mann entgegen, dessen dunkler Teint und schwarzes Haar den Südländer verrieten. Er trat auf sie zu und grüßte auf Englisch. Max und Sina stellten sich vor, Legrand aber schwieg.
»Wir haben selten Gäste hier«, sagte der Italiener, ohne die Unhöflichkeit des Piloten zu beachten. »Um so erfreulicher ist es, wenn sich doch einmal jemand hierher verirrt. Mein Name ist Antonio Lattuada. Willkommen auf meiner Baustelle.«
Er führte sie in seine Hütte, eine merkwürdige Konstruktion halb aus Holz, halb aus Eis. Zu ihrer Überraschung herrschte im Inneren eine angenehme Temperatur. Eine Inuitfrau servierte heißen Tee.
Lattuada mochte Ende Vierzig sein. Sein Gesicht war wettergegerbt, das Haar schütter. Seine Augen waren von strahlendem Blau, so leuchtend wie der Himmel über dem Ewigen Eis.
»Sicher wundern Sie sich. Alle tun das«, sagte er, nachdem sie sich auf weißen Bärenfellen am Boden niedergelassen hatten.
»Was machen Sie hier draußen?« fragte Sina. »Ich meine, wir haben Ihre Akropolis gesehen, aber...«
»Aber Sie verstehen nicht, wie jemand auf
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