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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stürmten, war es vorüber. Da war nur dieser Krater. Kein Feuer und keine Funken. Alles war dunkel. Nur das Eis war fort. Wir haben nicht einmal einen Hauch von Wärme gespürt, gar nichts.«
    »Aber Sie sind hier kaum zweihundert Meter vom Krater entfernt«, sagte Max. »Sie müssen etwas gespürt haben.«
    »Ich sagte es Ihnen doch: nichts. Als wir aufwachten, war für eine Sekunde alles gleißend hell, genauso lange, wie der Donner ertönte. Das Licht strahlte durch die Wände hindurch, ganz gleich ob aus Eis oder Blech oder Holz. Wir alle stolperten ins Freie, aber als wir draußen ankamen, war da nichts mehr.«
    Sina konnte es noch immer nicht glauben. »Und keiner hat irgend etwas gesehen? Stellen Sie nachts keine Wachen auf? Oder konnte vielleicht jemand nicht schlafen und ging ein paar Schritte spazieren? So was muß doch vorkommen.«
    »Nicht bei diesen Temperaturen«, widersprach er, aber diesmal klang er fast väterlich, nicht wütend. »Wir brauchen keine Wachen, und die Arbeit ist am Tag hart genug, daß jeder hier nachts schläft wie ein Toter. Und wenn mal einer wach liegt, wird er sich hüten, hinaus in die Kälte zu gehen.« Er holte tief Luft, dann fügte er hinzu: »Aber Sie haben recht. Es gibt einen, der etwas gesehen hat. Oder es zumindest behauptet.«
    Max beugte sich vor. »Wer?«
    »Der Angakkoq.«
    »Wer ist das?«
    »Der Inuit-Schamane unseres Lagers.«
    Legrand lächelte. »Lieber Himmel, ein Medizinmann! Was will er gesehen haben? Seinen Gott?«
    Der Architekt starrte finster in seine Richtung. »Ein Schamane ist kein einfacher Medizinmann, mein Freund. Und das Wort ›Gott‹ haben erst die Dänen nach Grönland gebracht. Die Inuit sehen im Angakkoq einen Reisenden zwischen den Welten, jemanden, der Dinge sieht, die kein anderer zu sehen vermag. Er spricht mit den Geistern, wenn es nötig ist. Sie sollten solch einen Mann nicht unterschätzen.«
    Max blieb skeptisch. »Glauben Sie etwa daran?«
    Lattuada zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, daß es uns nicht zusteht, darüber zu urteilen. Aber sprechen Sie selbst mit ihm. Wenn Sie möchten, werde ich für Sie übersetzen.«
    Wenig später betraten sie eine Eishütte, in der völlige Dunkelheit herrschte. Nur durch die Tür fiel ein verzerrtes Rechteck aus Tageslicht. In seinem Schein erkannten sie Beine, die aus der Finsternis ragten. Jemand saß dort im Schatten. Außer Füßen und Waden war nichts von ihm zu erkennen.
    »Warum kommt er nicht ins Licht?« fragte Legrand mißtrauisch.
    Lattuada verzog das Gesicht: »Warum treten Sie nicht zu ihm ins Dunkel?«
    Max konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er Legrand sauertöpfische Miene sah, und auch Sina grinste.
    Der Architekt fuhr fort: »So wie Sie die Finsternis fürchten, so ängstigt den Angakkoq das Licht. Es ist alles nur eine Frage des Standpunktes, glauben Sie mir. Helligkeit steht für die Welt der Menschen, für das Leben und für die Weite des Eises. Er aber ist ein Wesen, das sich im Reich der Geister zu Hause fühlt.«
    »Und ich dachte schon, er sei ein Mensch wie Sie und ich«, entgegnete Legrand sarkastisch.
    »Das ist er – und mehr als das.« Lattuada ließ es damit bewenden und wandte sich an den Angakkoq. Der Mann im Schatten antwortete mit alter, schnarrender Stimme. Lattuada erklärte ihm, wer die Besucher waren und was sie von ihm wollten. Es verging eine Weile, in der er ruhig auf den Inuit einsprach.
    Schließlich meinte der Architekt: »Er ist bereit, zu Ihnen zu sprechen. Bitte bewahren Sie Abstand, und kommen Sie nicht näher.«
    Sina schluckte. »Sagen Sie ihm, daß wir ihm dankbar sind, daß er uns seine Zeit schenkt.«
    Legrand rümpfte verächtlich die Nase.
    »Und bitten Sie ihn«, setzte Sina hinzu, »uns ganz genau zu beschreiben, was er in jener Nacht gesehen hat.«
    Lattuada und der Schamane wechselten einige Worte, dann folgte ein ganzer Wörterschwall aus dem Munde des Angakkoq. Lattuada war sichtlich bemüht, den genauen Wortlaut zu übersetzen.
    »Etwas flog am Himmel, bevor das helle Licht kam. Der Himmel war noch dunkel, aber das Etwas leuchtete. Der Angakkoq glaubte erst, es sei der Mond, aber der Mond war in dieser Nacht nicht voll und stand anderswo über dem Horizont. Dieser zweite Mond aber war rund wie die Sonne und glühte weiß und gelb und golden. Und da war noch etwas, ein großer Daumen am Himmel, sagt er.«
    »Das Luftschiff«, erklärte Max.
    »Gut möglich, ja«, meinte Lattuada. »Der Angakkoq sagt, der zweite Mond und

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