Hexenbrand
wie möglich hinter sich bringen und würde sich erst besser fühlen, wenn sie in die U-Bahn gestiegen war.
Das war alles normal.
Nicht normal war der Starrer.
Denn der war plötzlich da.
Er stand vor ihr, als wäre er vom Himmel gefallen, aber das traf bei ihm nicht zu. Er musste eher aus der Hölle gekommen sein, und er stand dort wie ein Felsblock, sodass Grace Russell keinen Schritt mehr weiter ging …
***
Es war schrecklich, und es war genau die Situation, die sie befürchtet hatte.
Sie schloss die Augen. Sie wünschte, dass sie sich getäuscht hätte. Aber als sie die Augen wieder öffnete, war er noch immer da. Er stand dort wie ein Fels, und sie sah ihn jetzt aus nächster Nähe.
Er war ein mächtiger Mann, wenn man von seinem Körper ausging. Sehr breite Schultern. Halblange dunkelblonde Haare, ein breiter Mund, eine kräftige Nase und nur ein normales Auge. Das linke fehlte ihm. Wo es einmal gewesen war, gab es nur noch ein schwarzes Loch. Seine Hände stützten sich auf einen Schwertgriff.
Grace Russel schnappte nach Luft. »Was – was – wollen Sie von mir?«
»Rate mal.«
»Ich weiß es nicht!«
Der Schaurige lachte. »Ich bin wieder da. Ich war eigentlich nie weg, aber nun bin ich endgültig zurückgekehrt. Verstehst du das?«
»Nein!«
»Das solltest du spüren.«
Grace hob die Schultern an. »Tut mir leid. Ich bin da überfragt, wenn ich ehrlich sein soll.« Das war sie in der Tat. Sie hatte den einäugigen Kerl nie zuvor gesehen.
Sein eines Auge starrte sie an.
Er war ein Blick ohne Gnade. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er von seinem Plan abweichen würde, aber noch hatte er ihr nichts getan.
Er starrte sie weiterhin an. Und er stand ihr im Weg. Er machte auch keinerlei Anstalten, ihn freizugeben. Von ihm strömte eine Gefahr aus, die bei Grace Russell eine Gänsehaut hinterließ.
Sie hatte sich trotzdem etwas erholt und fragte mit leiser Stimme: »Wer bist du?«
»Rate mal.«
»Ich habe keine Ahnung.« Sie war froh, dass er auf die Unterhaltung einging, so verging Zeit, in der sie vielleicht das Glück hatte, dass der eine oder andere Passant vorbei kam, den sie auf ihr Schicksal aufmerksam machen konnte.
»Du kannst mich auch nicht kennen, denn du stammst nicht aus meiner Zeit.«
»Aha, und was bedeutet das?«
»Ich bin der Henker!«
Jetzt war es heraus, und Grace Russell zuckte zusammen, denn mit einer solchen Offenbarung hatte sie nicht gerechnet. Sie spürte so etwas wie eine kalte Hand, die über ihren Rücken strich, und sie saugte scharf die Luft durch die Nase.
»Wieso Henker?«, hörte sie sich sprechen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich bin Henker der Hexen gewesen, ich habe sie vernichtet. Ich habe vielen Menschen damit einen Gefallen getan, aber das ist jetzt vorbei. Sie wollten mich nicht mehr. Sie schämten sich, wo ich ihnen doch so viele Probleme abgenommen habe.«
»Ach ja?«
»Ich brachte die Hexen um. Sie sagten mir, wer die Hexen waren. Ich bin zu ihnen gegangen und habe sie verbrennen lassen. Ich musste nur mein Schwert einsetzen.«
Grace Russell stand wie erstarrt. Sie konnte nicht fassen, was sie da gehört hatte.
»Du bist eine Hexe!«
Die Worte hatten sich angehört wie eine Anklage, und sie konnte nicht widersprechen, denn irgendwie hatte dieser Henker recht.
Sie war eine Hexe. Oder sie fühlte sich zumindest zu diesen Frauen hingezogen. Sie hatte Kurse besucht, sie hatte etwas über ein alternatives Leben erfahren. Es war bei ihr viel zusammengekommen, und sie hatte auch von den Hexen etwas erfahren, die das wieder aufleben ließen, was früher mal gewesen war.
Der Teufelsglaube. Die alte Zauberei. Die Kräuterkunde der Hexen. Das Schamanentum. Das alles hatte sie interessiert, und so hatte sie sich einem Zirkel angeschlossen.
Gesprochen hatte sie mit keinem darüber. Nicht mit den Arbeitskolleginnen und auch nicht mit den wenigen Verwandten, das war ihr Geheimnis geblieben.
Und doch war es bekannt geworden. Ausgerechnet einer Unperson, die es nicht geben durfte. Es gab in dieser Zeit keine Hexenhenker mehr, so etwas war unmöglich.
Oder irrte sie sich?
Grace glaubte nicht daran, dass er nur verkleidet war. Dahinter steckte mehr, und zwar etwas Echtes. Der hatte es nicht nötig, ihr etwas vorzuspielen.
Er war der Henker.
Er trug das Schwert.
Bisher hatte er es noch nicht benutzt, hatte es aber gezogen und mit der Spitze in den Boden gedrückt, wobei seine Hände auf den Griffseiten lagen.
Das eine Auge starrte sie an.
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