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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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durchschnitt.
    Irgendein Irrer musste in das einsame Haus im Wald eingedrungen sein und hatte Sarah und ihren Hund regelrecht abgeschlachtet.
    Sarahs langes blondes Haar lag wirr auf dem Kissen und wirkte fettig. Sie sah so fremd aus, so verwahrlost. Sie wird anfangen zu riechen, dachte Marcello, oh mein Gott, bald werden die ersten Fliegen kommen und in ihre Augen und Nasenlöcher kriechen, um ihre Eier abzulegen.
    Marcello spürte, wie ihm übel wurde. Fast schon automatisch überprüfte er seinen Puls. Sein Herz raste. Ich
muss mich setzen, dachte er, sonst bekomme ich den nächsten Infarkt vor ihrer Leiche.
    Um nicht umzufallen, tastete er sich an der Wand entlang zu dem kleinen Sessel am Fenster. Er öffnete es und atmete tief durch. Ein leichter Wind war aufgekommen, und nun konnte er auch das leise Rauschen der Blätter hören.
    Marcello zitterte. Die Situation überforderte ihn. Er überlegte fieberhaft, was er jetzt als Nächstes tun sollte, und begann vor Nervosität an den Fingernägeln zu knabbern.
    Er zwang sich, ruhig zu atmen, blieb ein paar Minuten sitzen und schloss hin und wieder die Augen, um Sarah nicht unentwegt ansehen zu müssen.
    Als er sicher war, dass sein Herz sich beruhigt hatte, stand er auf und schloss das Fenster. Er warf einen letzten Blick auf die tote Sarah und begriff erst in diesem Moment, dass er sie nie wiedersehen würde. Schnell verließ er den Raum, ging die Treppe hinunter, nahm seinen Korb und trat aus dem Haus. Einen Moment überlegte er noch, ob er die Haustür schließen sollte, aber dann ließ er sie offen.
    Marcello machte sich zügig auf den Rückweg. Er ging schneller als gewohnt, aber es machte ihm nichts aus. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Er war ein anständiger Mensch, der sich noch nie etwas hatte zuschulden kommen lassen. Er war immer pünktlich und korrekt. Bei ihm gab es keine Unordnung und keine Unsauberkeit. Er fluchte nicht und war höflich zu jedem Menschen, dem er begegnete. Seine Schrift sah aus wie gedruckt, da war kein Buchstabe undeutlich, und seine geschriebenen Zeilen waren so gerade, als habe er die Worte auf eine unsichtbare Linie gesetzt. Auf Marcello konnte man sich verlassen. Wenn er ein prallgefülltes Portemonnaie fand, brachte er es zur
Polizei, ohne ihm auch nur einen einzigen Euro zu entnehmen. Auch seine Kunden trickste er nicht aus, sondern bezahlte ohne zu zögern jede Versicherungssumme, die ihnen zustand. Marcello war ein durch und durch rechtschaffener Mensch.
    Es gab nur eine Ausnahme, einen Ausrutscher in seinem Leben, von dem niemand je etwas erfahren durfte. Ein Geheimnis, das er unbedingt mit ins Grab nehmen wollte. Sarah.
    Und aus diesem Grund entschied er an diesem Herbstmorgen, etwas zu tun, von dem er wusste, dass es falsch war. Er fühlte, dass er weder in der Lage war, weiter Pilze zu suchen, noch geradewegs nach Hause zu gehen. Also beschloss er, auf dem Markt ein paar Porcini, Steinpilze, die Pia ganz besonders liebte, zu kaufen, anschließend in einer Bar einen doppelten Grappa zu trinken und dann niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen, was er gesehen hatte. Den Carabinieri nicht und schon gar nicht seiner Frau.
    Er lief zügig und mit klopfendem Herzen durch den Wald und betete dabei, dass ihm niemand begegnen und ihn niemand sehen möge.
    Es war zwei Minuten vor neun, an diesem Freitag, dem 21. Oktober 2005.

2
    Am Abend zuvor waren die letzten Gäste in Romanos Trattoria »La Luna« erst um halb eins verschwunden. Um zwölf hatte Romano ihnen demonstrativ einen Grappa vom Haus kredenzt und die Rechnung fertig gemacht, indem er die Registrierkasse schnarren und rechnen ließ. Aber das junge Paar nippte den Grappa nur in winzigen Schlucken. Sie hatten die Hände auf dem Tisch ineinander verknotet, sahen sich unverwandt in die Augen und flüsterten sich leise Liebesschwüre zu. So viel konnte Romano mitbekommen. In den Jahren seiner Beziehung mit Sarah hatte er fließend Deutsch sprechen gelernt und war in der Lage, alles zu verstehen, was seine Gäste sagten.
    Seine Mutter Teresa hatte sich bereits um elf verabschiedet, nachdem sie die Küche so weit es ging aufgeräumt und geputzt hatte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie wie jeden Abend, und Romano nickte wie immer. »Wenn irgendetwas passiert wäre, hätte ich es dir gesagt.«
    Es kam oft vor, dass Sarah abends nicht in der Trattoria war um zu bedienen, sondern den Abend und die Nacht im Casa della Strega, ihrem »Hexenhaus«, wie

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