Hexenkind
seinem Schmerz beschäftigt, dass er das, was seine Frau gesagt hatte, nicht hörte.
4
Romano brauchte nur wenige Minuten, um die Zähne zu putzen, eiskaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen und sich anzuziehen.
»Du machst das fein«, sagte er zu seinem siebzehnjährigen Sohn Edi, der wie ein dicker Buddha breitbeinig auf der Erde saß und Kompottschälchen stapelte. »Sei brav, Oma bleibt hier, ich bin bald zurück.«
Dann kippte er den Espresso, den Teresa ihm reichte, in einem Zug hinunter, nickte dankbar, füllte direkt aus dem Wasserhahn ein Glas Wasser, trank es zügig aus und rannte aus dem Haus.
»Wo ist sie?«, fragte er die Carabinieri, die noch vor dem Haus standen und den Nachbarn ausweichende, vorsichtige Antworten gaben.
»Im Haus. Die Spurensicherung braucht noch eine Weile. Kommen Sie.«
Der ältere der beiden Carabinieri ging vor, Romano folgte ihm und seinem Kollegen und stieg in den Defender der Polizei. Er spürte die bohrenden Blicke der Nachbarn, als das blank geputzte Auto mit ihm auf dem Rücksitz davonfuhr.
Ungefähr zwanzig Minuten später stand Romano in der Schlafzimmertür des Casa della Strega und starrte auf die Leiche seiner Frau. Er durfte das Zimmer nicht betreten, um die Spurensicherung nicht bei der Arbeit zu behindern. Es störte ihn, dass die Spezialisten ihr die Augen zudrückten, ihren ganzen Körper betasteten und untersuchten, unter ihren fliederfarbenen Morgenmantel guckten und sorgfältig die Fingernägel säuberten, um den Schmutz in kleine Plastiksäckchen zu schmieren. Sie fuhren mit Fingern in ihren Mund und untersuchten die Mundhöhle, sie zogen die Zunge heraus und machten sich Notizen. Sie ließen sie nicht in Frieden, und Sarah konnte sich nicht wehren. Ihre Haut war wächsern und dort, wo sie nicht blutverschmiert war, grau und bleich, ihre geschlossenen Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten schwarze Schatten, Schatten, die er zu Lebzeiten noch nie an ihr bemerkt hatte.
Sarah. Der Name stand für all seine Träume, für seine Sehnsüchte und sein Verlangen, und es war nicht gut, sie jetzt so zu sehen. Er fürchtete plötzlich zu vergessen, wie sie gewesen war.
Berlin, 1987 – achtzehn Jahre vor Sarahs Tod
5
Es begann vor achtzehn Jahren in Berlin. Romano arbeitete in einem italienischen Restaurant in Schöneberg. Erst vor wenigen Tagen hatte er eine geräumige Anderthalb-Zimmer-Wohnung am Kleistpark gefunden, von dort konnte er zu Fuß in die Pizzeria gehen und sparte das Geld für ein Auto oder für die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Wohnung lag im vierten Stock eines Berliner Altbaus, das Parkett war zerschrammt und abgewetzt, der schon x-mal übergestrichene Stuck an der Decke hatte seine Konturen verloren, aber Romano war glücklich und zufrieden, die Wohnung gefunden zu haben. Er sparte jeden Pfennig, um so bald wie möglich in seinem Heimatdorf in Italien eine eigene Trattoria aufmachen zu können. Dafür arbeitete er jeden Tag dreizehn oder vierzehn Stunden, aber auch das störte ihn nicht, denn er hatte keine Freunde und kam eigentlich nur nach Hause, um zu schlafen oder Briefe nach Italien zu schreiben.
Aber bereits direkt nach dem Einzug merkte er, dass es mit dem Schlafen in der neuen Wohnung nicht weit her war. In der Nachbarwohnung schrie ein Kind. Von morgens bis abends und natürlich auch nachts. Wenn es nicht vor Erschöpfung einschlief, brüllte es. Oder es schlug mit Kochlöffeln gegen die Wand oder Topfdeckel aneinander.
Romano liebte Kinder, aber dennoch hielt er es nach einer Woche nicht mehr aus und klingelte bei der Nachbarwohnung, als das Geschrei wieder ohrenbetäubend war. Plötzlich Totenstille.
Eine junge blonde Frau öffnete. Ihre Schönheit war offensichtlich, obwohl sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff, da ihr der Qualm einer Zigarette, die ihr – schon fast vollständig heruntergebrannt – im Mundwinkel hing, in den Augen brannte. Auf dem Arm trug sie ein ungefähr dreijähriges Kind mit flachsfarbenen kurzen Haaren, die nicht erkennen ließen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Es hatte keine verweinten Augen, sondern starrte ihn mit zusammengepressten Lippen interessiert an.
»Ja?«, fragte die Frau. »Entschuldigung«, stammelte Romano. »Ich bin Nachbar. Da.« Er deutete auf seine offen stehende Wohnungstür. »Kind schreit viel. Muss arbeiten viel. Kann nicht schlafen.«
»Das tut mir leid«, sagte die Frau. »Aber das ist nun mal nicht zu ändern. Kinder schreien
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