Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
hektischer werde es in diesem Betrieb, selbst hier am Schreibpult, an dem jetzt der Jahresabschluss getätigt werden müsse.
Also auch in der Lombardei fiel das Jahresende auf den Silvestertag, erkannte Lucia kopfschüttelnd, wie in Tirol. Rechnete das Volk hier wie dort ansonsten nach dem bewährten Naturkalender, so hatte das Jahr nach einem schon älteren Vatikanbeschluss nicht mehr, wie ehedem, zum Winterende, sondern mitten im Julmond mit einer Silvesterfeier auszuklingen, eine Anordnung, der sich bei weitem noch nicht alle christlichen Länder gebeugt hatten.
Ihre Mutter habe ihr aufgetragen, fuhr Anna fort, aus dem vor ihr liegenden Papierwust die Ein- und Verkaufsbelege auseinander zu sortieren. Darauf bot Lucia ihr an, ihr beim Sortieren zu helfen, und da Anna sie darauf skeptisch anblickte, erklärte sie ihr: "Ich bin nicht nur Laborant, sondern auch Kontorist und war in einem Betrieb beschäftigt, der", sie rechnete nach, "vierzig mal größer ist als dieser hier."
"V i e r z i g mal größer?"
"Si, Anna. Und mein Vorgesetzter hat mich für einen klugen Kaufmann gehalten. Nachdem er gestorben war, habe ich über ein Jahr lang den Betrieb sogar selbst geleitet, und er hat ebenso gut weiterfloriert." Nach einer kurzen Pause brachte Lucia wie zu sich selbst über die Lippen: "Bei meinem Nachfolger wohl leider nicht mehr."
"Macht dich das traurig?"
"No", entgegnete Lucia, schränkte diese Behauptung jedoch gleich darauf ein: "Eija halt, ein wenig schon. Aber ich will an all dies nicht mehr denken. - Also, darf ich dir helfen?"
"Va bene, Lukas, liebend gerne, nur muss ich Mamma fragen, ob sie es erlaubt."
Wenig später bestätigte Lucia Annas Mutter, dass sie ausgebildeter Kaufmann sei, worauf die Maestra ihre Hilfe nicht nur freudig annahm, sie ließ ihr dabei auch freie Hand.
Darauf fand sich Lucia mühelos in die Arbeit ein, und bis zum Mittag war alles sortiert.
Am Nachmittag saß sie erneut im Kontor und begann mit den Eintragungen in die Bücher, während sich Anna in der Werkstatt betätigte. Hin und wieder blickte Maestra Alberti zu ihr herein, was Lucia nutzte, um mit ihr Additionsfehler zu klären, die sich vorwiegend auf zu hohe Abrechnungen der Lieferanten bezogen.
"Du hast einen scharfen Blick", stellte die Maestra fest, "ich hätte diese Fehler wahrscheinlich übersehen."
"Mein damaliger Ausbilder hat mich gelehrt, den Lieferanten stets auf die Finger zu schauen, denn viele betrügen, wo sie nur können. Allerdings sollte man ihre Abrechnungen auf der Stelle überprüfen und nicht erst zum Jahresabschluss, wo man nichts mehr zurückfordern kann."
Das sah die Maestra ein, zumal sie bereits jetzt eine beträchtliche Summe vor Augen hatte, die ihr durch ihre Nachlässigkeit verloren gegangen war.
Lucia beschäftigte sich noch stundenlang mit der Buchführung, sie saß noch am Pult, als die anderen bereits Feierabend hatten. Bis die Maestra zu ihr herein trat, um sie aufzufordern: "Jetzt aber Schluss, Lukas. Wenn wir Erola nicht verärgern wollen, müssen endlich auch wir zum Abendbrot erscheinen."
Beim Betreten des Speiseraums überblickte Lucia rasch die Tischrunde - Carlo fehlte, sie konnte erleichtert Platz nehmen.
Nach dem Abendbrot unternahm Lucia einen Stadtspaziergang, der allerdings kurz ausfiel, da es ihr in ihrem Lederwams heute tatsächlich zu kalt war. Wieder im Haus, stieß sie im Flur auf Anna und Antonio, und als sie ihr Wams an den Haken hängte, bewunderte es Antonio: "Ein elegantes Stück, damit fällst du bestimmt überall auf."
"Weiß nicht, jedenfalls lässt es sich angenehm tragen", gab sie zurück und verschwieg ihm, dem mannhaften Jüngling, wie erbärmlich sie eben darin gefroren hatte. Dann holte sie das Wams wieder vom Haken und hielt es Antonio hin: "Prego, ich schenke es dir."
Er hob sogleich abwehrend die Hände an, ließ sie aber ebenso rasch wieder fallen, und dann wanderte sein Blick unentschlossen zwischen Lucia und dem 'eleganten Stück' hin und her.
"Ich kann es ohnehin nicht mehr tragen", nahm Lucia ihm die Entscheidung ab, "es ist mir zu eng geworden."
Darauf nahm er es freudig entgegen, und wie er es anprobierte, piekste ihn Anna: "Wenn es Lukas zu eng geworden ist, muss es dir passen, zumindest an den Schultern."
In seiner Freude konnte ihn Annas kleine Frechheit nicht treffen, und da ihm das Wams nicht nur passte, sondern auch vorzüglich stand, behielt er es den ganzen Abend über an, selbst noch in der gut beheizten Kaminstube. Heute benahm sich Antonio
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