Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
si."
Im nächsten Moment verließ er die Kammer. Und während Lucia vollends zu sich fand, dämmerte eine Erkenntnis in ihr auf - was bislang wie Zufall schien, erhellte sich ihr als Absicht, Carlo hatte ihr morgens wie abends stets die Möglichkeit eingeräumt, sich in seiner Abwesenheit herrichten zu können. Nicht nur aus Höflichkeit, er wollte ihr damit gleichsam verdeutlichen, er habe kein sexuelles Interesse an ihr, und Lucia konnte sicher sein, dass er dies auch weiterhin so handhaben wird. Eine erlösende Erkenntnis.
Entsprechend gelockert ging sie den Tag an. Um ihre Gastgeber nicht beim hübsch Verpacken ihrer Weihnachtsgeschenke zu stören, unternahm sie am Vormittag, diesmal in knielanger Wollschaube mit Pelzkragen, einen Ritt durch das altertümliche und gerade deshalb so anheimelnd wirkende Verona, in dem man immer wieder auf alte Römerbauten stieß. Carlos geliebte Heimatstadt, lächelte Lucia, deren Herz sich wieder merklich für ihn erwärmte.
Deshalb half sie ihm nachmittags auch freudig beim Aufstellen und Schmücken des Weihnachtsbaumes. Wobei sie ihm ihre wieder erwachte Zuneigung allerdings verhehlte, sie tauschte keinen Blick und nur die nötigsten Worte mit ihm aus. Dennoch genossen beide ihre gemeinsame Tätigkeit, da sie sich in allem einig waren - an welchen Zweigen sie die Zapfen und die vielen bunten Zuckerplätzchen verteilten, wo dieses Glöckchen oder jener rotbackige Apfel am nettesten aussah und am Ende, wo sie all die Kerzen aufsteckten. Selbst als sie hinterher wortlos und zufrieden ihr Werk betrachteten, fühlten sie ihre Einigkeit.
Die Erwartungsfreude begann förmlich zu knistern, als sich Signora Alberti am Abend alleine in der Kaminstube betätigte und schließlich mit dem Wunsch: "Fröhliche Weihnacht!", die Tür öffnete.
Neben dem Kamin prangte hell im Kerzenschein der Weihnachtsbaum, Festlichkeit, Fröhlichkeit verbreitend, was sich in den Gesichtern der jetzt Eintretenden sogleich widerspiegelte. Die Familienmitglieder, Lucia mitten unter ihnen, reihten sich vor dem Baum auf, fassten sich an den Händen und sangen gemeinsam: "Die große Freud' bricht an."
Gleich darauf begann der Geschenkeaustausch, jeder überreichte jedem sein Päckchen und wünschte ihm fröhliche Weihnachten.
Lucia beschenkte Carlo als Letzten: "Prego, Carlo und fröhliche Weihnachten."
"Grazie, si, wünsch ich dir ebenfalls", brachte er überrascht hervor.
Sie wartete einen Moment, ob sie auch etwas von ihm erhalte, doch er blieb unbeweglich stehen. Darauf trat sie wieder zu jenem Hocker, auf dem sie ihre empfangenen Geschenke abgelegt hatte.
Und nun öffneten alle ihre Päckchen. Dabei ertönten Freude- und Überraschungslaute, es wurde gelacht, grazie gejubelt und Signora Alberti rief aus: "Gemusterte Zierbänder! Oh, Carlo, echte Seidenbänder!" Er stand mit verlegenem Grinsen neben ihr, und prompt wollte sie von ihm erfahren: "Wie hast du die bloß bezahlen können?"
"Si, also", stotterte er, "das war so, Lukas und ich, wir waren in diesem Chinageschäft und da, naja, da . ."
Lucia kam ihm zur Hilfe: "Da ich dort einiges eingekauft hatte, hat Carlo dem Inhaber am Ende diese Bänder abgehandelt."
Darauf fiel ihm seine Mamma um den Hals: "Ich danke dir, mein Junge! Hätte ich dir nie zugetraut."
Schmunzelnd wandte sich Lucia ab und betrachtete sich ihre eigenen Gaben - von Signora Alberti ein paar Wollhandschuhe, von Anna einen Federkiel und von Antonio eine Gürtelschnalle aus Hirschhorn.
Plötzlich stand Carlo neben ihr und sprach sie leise an: "Nicht, dass du denkst, ich hätte nichts für dich, es ist nur so - ich weiß nicht, ob ich dir das noch geben darf. Ich lege es auf deinen Hocker, und wenn es dir nicht zusagt, gibst du es mir einfach zurück."
"Si. Und grazie!"
Lucia nahm das kleine Päckchen hoch. Vorsichtig löste sie die Schleife, wickelte das Seidenpapier auf und zum Vorschein kam eine kleine Schatulle. Wie sie dann deren Deckel anhob, stockte ihr augenblicklich der Atem, darinnen lag jener kunstvoll geschmiedete Silberring, den Carlo und sie bereits vor mehreren Wochen bei einem Mailänder Juwelier bewundert hatten. Es sei ein Freundschaftsring, hatte ihnen der Juwelier erklärt, wer ihn jemandem schenke, bleibe in ewiger Freundschaft mit ihm verbunden. Carlo hatte ihn dann mit einem großen Teil seines angesparten Taschengelds heimlich für sie erworben, und jetzt, in ihrer prekären Situation, hatte er den Mut aufgebracht, ihn ihr darzubieten. Kein Zweifel, das war ein
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