Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Empfehlungen, die Alphonse ihr seinerzeit in Bozen erteilt hatte, nachgekommen war. Ja, sie hatte etwas Seifenschaum ans Rasiermesser geklebt, ein paar Haare im Kamm hängen lassen, das Nachthemd nicht glatt, sondern nachlässig aufs Bett gelegt, und das verbrauchte Wasser ließ sie, ebenso wie Carlo es getan hatte, auf dem Toilettentisch stehen. Lucia hätte alles ordentlich hinterlassen, Lukas durfte das nicht.
Dann ging sie laut trapsend die Stiege hinab, weshalb sie unten sogleich die dicke, gut vierzigjährige Haushälterin Erola mit einer Kerze in der Hand dienstbeflissen mit einem Knicks empfing: "Buon giorno, Signor!"
"Buon giorno!"
So untertänig war Lucia das Meraner Hauspersonal nie begegnet, ein Maßstab, dass sie die Männerrolle beherrschte. Erola führte sie in den Speiseraum und dort an den Frühstückstisch, auf dem, außer einer brennenden Tranlampe, nur noch Lucias Gedeck stand - ein gefüllter Brotkorb, ein paar Käsestücke, ein Töpfchen Schmalz und ein leerer Becher.
"Pervavore", forderte Erola sie auf, "setzt Euch. Darf ich Euch Milch bringen oder eine Schale Haferbrei?"
"Milch, perfavore", antwortete Lucia, worauf sich Erola artig zurückzog.
Während sich Lucia nun ein Stück Brot abbrach, es in das Schmalz tunkte und dann hineinbiss, staunte sie, wie groß der Speiseraum im Vergleich zu dem kleinen Haus war. Aber Signora Alberti hatte ihr gestern ja erzählt, hier speise auch das Personal ihrer Modistenwerkstatt. Die Werkstatt mit Laden lag im Haus nebenan, und Signora Alberti, die Modistenmeisterin, beschäftigte darin zwei Gesellinnen, einen Gesellen, sowie Anna als Lehrling. Lucia entschloss sich, nach dem Frühstück einen Blick in ihren Betrieb zu werfen, wobei sie damit rechnete, dort von der gleichen Dunkelheit und Kälte empfangen zu werden wie hier, denn bei den Häusern einfacher Leute waren in dieser Jahreszeit die scheibenlosen Fenster Tag und Nacht von rippenartigen Läden verschlossen, durch die kaum Licht, dafür aber umso mehr Kaltluft eindrang.
Jetzt brachte Erola einen Becher warme Milch herein, und während sie ihn bewusst langsam vor Lucia auf den Tisch platzierte, äußerte sie mit erwartungsvollem Unterton: "Euer Freund Carlo ist fort geritten und kommt auch zum Mittagessen nicht her."
Obwohl sie Lucia fragend ansah, versagte die ihr die gewünschte Erklärung dazu. Darauf knickste sie verlegen und watschelte zurück zur Küche.
Nach dem Frühstück schlupfte Lucia im Korridor in ihr Lederwams. Das nutzte erneut die neugierige Erola. Erst fragte sie nur von der Küchentür her, ob denn wenigstens, statt Carlo, sie am Mittagessen teilnehme, und als Lucia bejaht hatte, trat sie, wieder mit Kerze in der Hand, näher, wobei sie Lucia riet: "Besser, Ihr zieht was Wärmeres an, draußen weht heute ein nasskalter Wind."
"Gute Frau", brüstete sich Lucia, "mir macht ein bisschen Wind nichts aus", und wollte zur Tür hinaus. Was Erola unterband, indem sie von Lucia erfahren wollte:
"Scusi, wie seid Ihr eigentlich anzusprechen, mit Don oder nur mit Signor?"
Es bereitete Lucia Spaß, sie im Unklaren zu lassen, weshalb sie entgegnete: "Das bleibt dir überlassen."
Dann reichte sie Erola in Edelmannmanier eine Silbermünze: "Prego, für deine freundlichen Dienste."
Darauf knickste Erola abermals, nur bedeutend tiefer als vorhin, und Lucia wusste, dass sie mit dieser Münze endgültig Erolas Achtung errungen und gleichzeitig ihre Aufdringlichkeit eingedämmt hatte.
Im Modistenladen, der zu Lucias Erstaunen beheizt und mit vielen Öllampen gut ausgeleuchtet war, stieß sie auf lebhaftes Treiben. Eine Kundin wartete geduldig darauf, bedient zu werden, doch Maestra Alberti musste sich noch mit einem Herrn beschäftigen, der sich eine aufwendige Quastenmütze hatte anfertigen lassen, mit der er völlig unzufrieden war. Maestra Alberti wirkte verzweifelt.
Damit nicht auch noch sie der Maestra zur Last falle, trat Lucia hinter in die Werkstatt, die ebenso warm und hell ausgeleuchtet war wie der Laden. Hier saßen die beiden Gesellinnen und der Geselle an ihren Arbeitsplätzen und waren so emsig mit ihren halbfertigen Hüten, Kappen, Baretts und Mützen beschäftigt, dass Lucia auch sie nicht stören wollte. Dennoch erkundigte sie sich nach Anna, worauf eine der Gesellinnen zu einer Tür deutete: "Da, in der Schreibstube."
In dem kleinen Kontor wurde sie von Anna scheu aber freundlich begrüßt. Wenigstens hier ein netter Empfang. Anna erklärte ihr, je näher Weihnachten rücke, umso
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