Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
sie.
"Ich komme mit dem Brief an Vater nicht zurecht, Maman."
"Oh, ma Chère", bedauerte sie, setzte sich neben Lucia auf einen Hocker und wollte erfahren, was sie ihm denn mitzuteilen beabsichtige.
Lucia begann, all ihre Vorhaltungen an ihren Vater aufzuzählen, ihre Mutter aber unterbrach sie: "Non, Lucia, nenne mir nur das Wesentliche."
"Das Wesentliche", überlegte Lucia, wollte wieder von vorn beginnen, besann sich jedoch und formulierte ihre Vorwürfe präziser: "Dass er als Vater versagt hat, ungerecht, unberechenbar und hartherzig ist und mich damit verletzt hat - nein, das besser nicht - lieber, dass er mich enttäuscht hat."
"Oui, Lucia, das schreibe ihm, nur diesen letzten Satz. Damit drückst du alles aus."
"Nur diesen einen Satz?"
"Oui, jedes weitere Wort würde deine Aussage schmälern."
Das kam Lucia lächerlich vor. Nein, so einfallslos und vor allem schonend soll ihre Anklage nicht ausfallen. Da sie ihrer Mutter jedoch nicht widersprechen mochte, wollte sie ihr vor Augen führen, wie armselig die von ihr empfohlenen Worte wirken. Also tunkte sie erneut den Federkiel ins Tintenfass und hielt auf einem frischen Briefbogen fest:
Vater, ich bin enttäuscht von dir.
Lucia.
Nachdem sie zum Trocknen über diese paar Worte etwas Streusand verteilt hatte, lehnte sie sich zurück und deutete mit provokantem Blick zu ihrer Mutter auf den Briefbogen: "Bitte."
Madame Rodder überflog den kurzen Satz, nickte und forderte Lucia dann auf: "Jetzt stell dir vor, dieser knappe Brief sei an dich gerichtet und lies ihn unter diesem Aspekt."
Lucia tat es und erschrak - diese Worte würden sie treffen. Ja, musste sie zugeben, und sie würden sie nachdenklich stimmen. Genau das, was sie bei ihrem Vater im Grunde erreichen will. Etwas verschämt und gleichzeitig erleichtert wandte sie sich zu ihrer Maman: "Merci, darauf wäre ich nie gekommen."
Darauf lächelte Madame Rodder wissend, rollte dann den Bogen zusammen und bat Lucia, ihn mit einem Briefband zu umwinden, damit sie ihn ihrem Mann nach seiner Rückkehr überreichen könne, sofern Lucia sich das so vorgestellt habe. Zwar hatte Lucia den Brief auf ihres Vaters privatem Schreibpult deponieren wollen, doch die Idee ihrer Mutter gefiel ihr besser: "Nochmal merci, Maman! Und geh jetzt ruhig wieder raus zu Justus, ich komme in wenigen Minuten nach."
Die Amseln begrüßten mit ihren melodischen Gesängen die sich sachte nahende Dämmerung, als sich Lucia im Vordergarten zu ihrer Mutter und Justus auf einen Gartenstuhl setzte. Trotzdem dies ihr letzter gemeinsamer Abend war, kam keine Abschiedsstimmung auf, da sie sich endlos zu erzählen hatten.
Erst als Lucia bemerkte, dass ihre Maman den Abend beschließen will, brachte sie heraus, was ihr all die Tage auf der Seele gelegen hatte. Als hiesige Hausherrin, begann sie, käme sie doch auf Dauer nicht umhin, wenigstens ein bisschen mehr als gar nichts von Haushaltsführung zu verstehen.
Darauf nahm ihr Madame Rodder gekonnt die Anfangsscheu vor dieser Aufgabe: "Ach, ma Chère, das Wesentliche beherrschst du doch bereits: Organisieren, Führen von Personal und gute Manieren. Müsstest du dir nur noch Kenntnisse über die Pflege dieses Anwesens sowie über die Küche aneignen, und dabei werde ich dir behilflich sein. Jedenfalls erstelle ich dir bis zu deinem nächsten Besuch schon mal eine Liste, welche Gerichte und Getränke man zu welchen Anlässen anbietet, dann sehen wir weiter. Schön wäre es ja, Lucia, wenn du Weihnachten und Silvester bei uns verbringen könntest, wäre das denn möglich?"
"Ich denke eher an Ostern, Maman."
"Pfundig!" jubelte darauf Justus, "das feiern wir dann wieder wie früher, als Großvater noch lebte, mit Fackelzug und Osterfeuer."
Seine Mutter stimmte ihm zu: "Oui, mon Petit, genau so werden wir das hier auf dem Hügel dann feiern, mit vielen, vielen Gästen. Und du, Lucia kannst dann mit meiner Unterstützung bereits kleine Hausfrauenpflichten ausüben."
"Ou, ou, Maman!"
"Oui, oui, ma Chère!"
Als Lucia hatte sie in Bozen ein Badehaus betreten und es als Lukas wieder verlassen.
Für die Reise mit drei Übernachtungen hatte sie sich dann Zeit gelassen und traf schließlich ausgeruht in der da Vinci-Bottega ein, wo sie mit Schulterklopfen und Umarmungen herzlich begrüßt wurde.
Leider fehlte Leonardo. Er sei seit Tagen verschwunden, sagte ihr Carlo, und natürlich wisse wieder niemand, wo er sich aufhielt und wann er zurück zu erwarten sei. Bis vor vier Wochen, hätte Lucia diese Nachricht
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