Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
betrübt, diesmal war sie über Leonardos Abwesenheit lediglich ein wenig traurig, denn es schien, sie habe ihre Gedanken in Meran zurück gelassen. 'Ist Vater inzwischen zu Hause?' 'Hat er bereits meine beiden Mitteilungen gelesen?' Diese Fragen ließen Lucia nicht los. Wenngleich sie mit einer Beantwortung nicht rechnen konnte, denn sie hatte ihre Mutter gebeten, ihr nur entscheidende Nachrichten mitzuteilen und das auch nur über Alphonse. Es war Lucia zu riskant gewesen, ihrer Mutter ihre hiesige Anschrift bekannt zu geben.
Fast eine Woche war vergangen, als Carlo Lucia half, sich wieder in der da Vinci-Bottega einzufinden. Er nahm sie mit in das Freilichtatelier, wo er ihr seinen fast fertig gestellten Marmorelefanten vorführte.
Zunächst erschien Lucia dessen Körper etwas plump, doch wie Carlo sie darauf hinwies, dass dieses Tier schließlich mal auf seinem Rücken das Treppengeländer stützen müsse, begriff sie den Sinn. Es war ein kraftvoller Elefant geworden, dessen Beine wie vier standfeste Säulen wirkten, und im Gegensatz dazu war sein Rüssel in S-Form nach oben gerichtet, ein reizvoller Kontrast zu seinem Körper und andererseits passend zu der Form der Geländerpfeiler.
"Er sieht aus, als würde er über das Gewicht auf seinem Rücken triumphieren", begeisterte sich Lucia jetzt, worauf Carlo erfreut nachfragte:
"So siehst du das?" Dann erklärte er ihr: "Er soll den Sieg über die Erdenschwere symbolisieren."
"Das tut er", bestätigte sie ihm und erkannte, dass die Form des aufgerichteten Rüssels der keltischen Sieg-Rune entsprach. "Hat dich Leonardo zu dieser Symbolik angeregt?"
"So etwas tut unser Maestro doch nie. Er hat zwar meine Fantasie angeregt, dabei aber alles offen gelassen. Die erste Zeit habe ich so hilflos vor meinem grünen Marmorblock gesessen wie du bei deinen neuen Malübungen vor der Staffelei. Ganz unerwartet habe ich dann das Bild eines Sieges trompetenden Lastelefanten vor Augen bekommen."
"Das muss ein erhebendes Erlebnis gewesen sein", freute sich Lucia mit ihm und hoffte, auch ihr werde bald bei ihren Übungen solch ein Erlebnis zuteil. Doch bereits im nächsten Moment ermahnte sie sich - nur nicht wieder Erwartung aufkommen lassen!
Nun traten sie nach Carlos Aufforderung in Leonardos Arbeitsbereich, wo Lucia sogleich sprachlos das dortige Meisterwerk bestaunte. Auf dem Arbeitssockel stand, nein, schwebte eine hellgrüne Lyra, leuchtend wie Phosphor.
"Er hat daran gearbeitet wie an seinen Gemälden", sagte ihr Carlo, "pausenlos und völlig abgetreten. Und so geschwind, Lukas, seine Hände waren wie flatternde Schmetterlinge, obwohl sie diese schweren Werkzeuge führten."
"Genauso wirkt auch diese Lyra, schwerelos wie ein Schmetterling in der Luft. Wie aber soll dieses feine Gebilde mal die Last des Geländers tragen können?"
"Ein Geniestreich, Lukas. Dieser Lyra liegt das Gesetz der Bogenkraft zugrunde. Auch wenn der Bogen umgedreht ist, seine Kraft wirkt durch die geschwungenen Seitenteile ebenfalls stützend nach oben, erkennst du das?"
"No", gab sie zu, "aber ich fühle es, irgendwie kann man das fühlen. Du, in seinem Atelier hat er Aufzeichnung über die Bogenkraft liegen, die schau ich mir jetzt an."
"Warte", hielt Carlo sie zurück, "das würdest du umsonst versuchen, der Maestro hat sein Atelier und auch den Laborraum von beiden Seiten abgeschlossen."
"Schade", bedauerte sie, begab sich aber dennoch zum Palazzo, da es sie seit ihrer Rückkehr nun zum ersten Mal wieder zu ihren Malübungen drängte.
Erst die Woche darauf traf Leonardo wieder ein, mit einem Jüngling an seiner Seite. "Das ist Nicola Pasetti aus Merate", stellte er ihn vor, "ein neuer Garzone unserer Bottega."
Nicola wurde herzlich begrüßt, und alle Bottegaangehörigen setzten sich mit ihm zu einem kurzen Empfangsplausch auf die Blockhausveranda. Diesmal nahm Leonardo an Lucias Seite Platz, allerdings nicht zu nah, und bald passte er einen unbeobachteten Moment ab, um ihr leise zu sagen: "Schön, dass du wieder hier bist, Lukas. Ich war enttäuscht, als Alfonso ohne dich gekommen ist."
Sie wollte eine Erklärung vorbringen, er aber bremste sie: "Schon gut, ein andermal, si?"
Sie nickte, und beide beteiligten sich wieder an der allgemeinen Unterhaltung. Wenig später löste Leonardo den Kreis wieder auf und bat Carlo, Nicola die Bottega vorzuführen und ihm am Ende behilflich zu sein, sich im Dachgeschoß eine Stube auszuwählen.
Nicolas Körper war verunstaltet, er hatte einen argen einseitigen
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