Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Landstraße und blickten stumm seiner Droschke nach. Dabei wurde Lucia unerwartet schwer ums Herz. Es schmerzte sie, dass er davonfuhr, so, als ende damit für ihn und sie ein Lebensabschnitt, denn fortan benötigt sie seine Hilfe nicht mehr. Alphonse empfand ähnlich. Beim Verabschieden hatte er sie gegen seine Gewohnheit an sich gedrückt und liebevoll hervor gebracht: "Adieu, meine erwachsene Lucia!"
Wie die Droschke dann hinter der Straßenabbiegung verschwand, wandte Lucia den Kopf zu ihrer Mutter und sah gerade noch, dass auch sie Alphonse wehmütig nachgeschaut hatte.
Während der folgenden Tage umsorgte Madame Rodder ihre Lucia, wie es nur einer Mutter gegeben ist. Dreimal täglich bereitete sie ihr im Küchenhaus eigenhändig den gestern von ihr besorgten Halstee zu, löste ihr morgens wie abends zum Gurgeln die schwarzroten Kalikörner in lauwarmem Wasser auf, und sie achtete stets darauf, dass Lucia im Garten weder direkter Sonne noch Wind ausgesetzt war.
Als Lucia ihr auf ihre Frage jedoch sagen musste, dass sie als Folge des seinerzeit zu eng gewordenen Eisengürtels nie wieder ihre Frauenblutung bekommen hatte, wusste sie keinen Rat, und ihr Kopf senkte sich tief nach unten. Um es ihr nicht noch schwerer zu machen, verschwieg Lucia ihr, dass sie sich deshalb davor scheue, in der Stadt ihre Freundinnen zu besuchen, die ihr nicht nur stolz ihre Kinder vorführen, sondern sich auch nach ihren eigenen Heirats- und Kinderwünschen erkundigen würden. Stattdessen äußerte sie, sie begrüße es, noch nicht verheiratet zu sein, denn wie sonst könne sie ihrer Kunstausbildung nachkommen. Dieses Argument griff Madame Rodder auf, indem sie heraus strich, sie selbst habe viel zu früh geheiratet, wodurch sie nicht nur von der Abhängigkeit ihrer Eltern in die ihres Ehemanns geraten sei, sie habe auch auf ihre weitere Medizinausbildung verzichten müssen.
"Und letztendlich auf dein Erbe", ergänzte Lucia, wozu ihre Mutter stumm nickte.
Das war das Los einer jeden Ehefrau. Sie konnte erben oder erwirtschaften, was sie wollte, das Verfügungsrecht darüber gebührte ihrem Gatten. So bestimmte es das Gesetz. Das Lucias geschäftstüchtiger Großvater allerdings abzuwandeln verstanden hatte. Meister Rodders einziger Besitz war heute sein Wohnhaus. Das jetzt leer stand. Doch Madame Rodder und Justus wohnten inzwischen gerne im Herrenhaus, worin aus praktischer Sicht auch ein Vorteil lag, denn von hier aus konnte Madame Rodder das Anwesen weitaus besser leiten. Hätte sie diese Aufgabe nach dem Tod ihrer Mutter nicht übernommen, hätten alle sechzehn Domestiken entlassen werden müssen, und das Anwesen wäre verödet.
Außer der Familie Rodder wohnte im Herrenhaus noch im zweiten Stockwerk, wo sich sechs Gästesuiten und vierzehn geräumige Gästetuben befanden, das Ehepaar Hoppe. Frau Hoppe war die hiesige Köchin, und ihr Gatte der Hausmeister. Früher hatte außer ihnen im ersten Stockwerk noch Madame de Lousin gewohnt, doch als sich Meister Rodder entschlossen hatte, fortan hier zu residieren, war sie spontan in eine der vier Wohnungen des Gästehauses umgezogen. Dort wohnte sie nicht alleine, außer ihr lebte im Gästehaus noch die fünfköpfige Familie des Stallmeisters. Die vier Gärtner wie auch Gottlieb hatten eigene Wohnungen in der Stadt, der Förster lebte mit seinem Gehilfen und seiner Familie in einem Holzhaus im Bellwillforst, und die übrigen Domestiken im Gesindehaus, das ganz idyllisch am Parkrand lag. Und alle würden lieber Lucia als ihrem Vater dienen. Mit Ausnahme der mit Meister Rodder liebäugelnden Hausangestellten Gerda. Sie verübelte Lucia ostentativ, dass nun sie im Speiseraum am Kopf der Tafel Meister Rodders bisherigen Platz Inne hatte, denn wenn sie Lucia dort servierte, dann stets mit steinernem Ausdruck.
Nach fünf weiteren Tagen war Meister Rodder noch immer nicht eingetroffen. Ob sein Zorn noch zu sehr in ihm brodelte, ob er mit seinem Advokaten versuchte, doch noch etwas für sich heraus zu schinden, oder ob er schlichtweg schmollte, seine Familie konnte es nicht ermessen. Eins nur war eindeutig, er wurde stetig von jemandem über Lucias hiesige Anwesenheit unterrichtet, und seine Familie war sicher, dass er vor ihrer Abreise nicht zurückkehren wird. Justus, der die Hintergründe der familiären Zwistigkeit nur halbwegs kannte, ärgerte seine große Schwester frech: "Unser Herr Vater ist eben stur, müsstest doch gerade du verstehen."
Er wusste, dass sie an diesen Erbfehler nicht
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