Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
gerne erinnert wurde.
Lucia hatte ihres Vaters Abwesenheit genutzt, um in der Betriebsleitung, trotz der hasserfüllten Blicke des 'stellvertretenden Betriebsleiters', Herrn Schmalhover und dessen Sekretärs, die Akten zu studieren. Dabei war ihr schnell ins Auge gestochen, dass der Gewinn des Betriebes leicht, jedoch kontinuierlich rückläufig war. Verkauft wurden zwar noch immer die gleichen Mengen, doch die Einkaufssummen waren gestiegen. Es waren zu viele Rohsubstanzen eingekauft und großenteils auch verarbeitet worden. Meister Rodders ewiger Fehler, er glaubte, je mehr produziert wird, desto höher die Einnahmen. Dabei stapelten sich in der Lagerhalle die Farb- und Leimgefäße immer höher. Da Lucia ihn nicht persönlich auf diese Misswirtschaft hinweisen konnte, beabsichtigte sie, ihn vor ihrer Abreise schriftlich davon unterrichten.
Daneben hatte sie in den letzten Tagen auch Erfreuliches erlebt und erreicht. Ein Zusammentreffen mit ihrer Freundin Gritta, einen Besuch bei der Meraner Kunstwerkstatt Schnatterpeck, und ihre Mutter hatte ihr zu einer erfahrenen Verwalterin ihrer Meraner Mehrfamilienhäuser verholfen, der Frau von Zeno, die ihr auf Anhieb sympathisch war. Lucia hatte beschlossen, von diesen Mieteinkünften nunmehr zu leben, die Gewinne aus dem Werk hingegen sollen nach wie vor der Erhaltung des gesamten Bellwillhügels dienen.
Am Tag vor ihrer Abreise war Lucia nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gelangt, ihren Vater das Werk weiterhin leiten zu lassen, so, wie er es für richtig hielt. Ihr schien es unklug, ihm etwas vorzuschreiben, das würde seine Auflehnung gegen sie nur verstärken, was sich wiederum schädigend auf das Betriebsklima auswirke. In einem kurzen Schreiben an ihn, in dem sie ihn nun erstmalig mit du ansprach, bedankte sie sich für seine bisherige Führung des Betriebes und stellte ihm anheim, sie in ihrer Abwesenheit fortzusetzen wie bisher. Falls er dazu nicht bereit sei, werde sie sein Stellvertreter, Herr Schmalhover, übernehmen. - Schluss. Mehr Geschäftliches hatte sie ihm nicht mitzuteilen.
Anschließend bat sie Herrn Hoyer, allen in der Betriebsleitung Tätigen jenes Schreiben, das sie auf ihren Schreibtisch platziert habe, vorzulesen.
Zufrieden, das Führungsproblem auf diese Weise gelöst zu haben, verließ Lucia das Kontorhaus. Damit hatte sie alles Geschäftliche unter Dach und Fach gebracht, die Firmenangelegenheiten wie auch die Häuserverwaltung. Das Unangenehmste stand ihr allerdings noch bevor, an ihren Vater einen privaten Brief zu verfassen, in dem sie ihm vorhalten will, wie kaltherzig und verantwortungslos sie es von ihm finde, ihr zwei Wochen lang ausgewichen zu sein.
Auf ihrem anschließenden Weg zum Bellwillhaus trat ihr dann vor der Fabrikation Justus entgegen und bat sie um ein wenig Zeit für ihn, er habe dazu eine Stunde frei bekommen.
"Für dich doch immer", sagte Lucia zu.
Sie schlenderten links am Bellwillhaus vorbei, anschließend durch die üppig blühenden und duftenden Rosenarkaden, und da Justus noch immer nicht auf sein Anliegen kam, erkundigte sich Lucia jetzt, was er denn auf dem Herzen habe. "Noch nicht", gab er zaudernd zurück.
Also setzten sie ihren leicht bergab führenden Weg fort, nun durch den angenehm kühlen Park, wo sie sich schließlich am Ufer des von Trauerweiden umsäumten Teiches auf eine Bank nieder ließen.
"Jetzt aber raus mit der Sprache", regte Lucia ihren Bruder an, worauf er ebenso leise wie flott heraus stieß:
"Ich will kein Laborant werden."
Das hatte ihr bereits Alphonse berichtet, doch nun wollte sie aus dem Mund ihres Bruders seine Beweggründe zu diesem Thema erfahren:
"Na, sag schon", stieß sie ihn mit der Schulter an, "welcher Beruf würde dich denn krallen?"
Da er über ihre jugendlich moderne Ausdrucksweise lachen musste, brachte er jetzt locker heraus: "Die Mechanik. Ich will Mechaniker werden, lieber als alles andere."
"Aha, und wie stellst du dir das vor?"
"Ei so halt, du hast damals zwei Lehren gleichzeitig absolviert, und das könnte doch auch ich, oder?"
"Ich fürchte, das musst du dir aus dem Kopf schlagen, Justus. Oder wärst du bereit, wie damals ich, Abend für Abend und oft auch sonntags über den schriftlichen Aufgaben zu brüten, die du dann von z w e i Meistern gestellt bekommst? Freizeit verblieb dir dann kaum noch."
Mehr hatte sie ihm dazu nicht erläutern müssen, sie wusste, dieses viele Büffeln war nicht nach seinem Geschmack.
Was er jetzt demonstrierte, mit hängendem Kopf
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