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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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eigenes verbranntes, d ü steres Licht.
    Ein Schmuckkasten stand auf der Marmorplatte des Nachtt i sches. Offen. Als hätte man für den Inhalt nichts bezahlen müssen. Ein anderer jedenfalls hätte es kaum gekonnt. Selbst der Doktor, der von solchen Dingen kaum etwas verstand, wußte, daß diese Juwelen echt waren.
    Als er den Samtbezug der Schatulle berührte, fuhr Miss Nancy herum und hätte ihn fast angeschrien.
    »Fassen Sie das ja nicht an, Doktor!«
    »Mein Gott, gute Frau, Sie halten mich doch nicht für einen Dieb.«
    »Es gibt eine Menge, was Sie über dieses Haus und diese Patientin nicht wissen. Was glauben Sie, weshalb die Blendl ä den allesamt kaputt sind, Doktor? Fast aus den Angeln fallen? Warum, glauben Sie, blättert der Putz von den Ziegelwä n den?« Sie schüttelte den Kopf; das weiche Fleisch ihrer Wa n gen wabbelte, und ihre farblosen Lippen waren zusammen gepreßt. »Lassen Sie nur mal jemanden versuchen, die Läden zu reparieren. Lassen Sie nur mal jemanden eine Leiter rau f klettern, um dieses Haus anzustreichen.«
    »Ich verstehe nicht«, sagte der Doktor.
    »Fassen Sie niemals ihren Schmuck an – mehr sage ich nicht, Doktor. Rühren Sie hier überhaupt nichts an, was Sie nicht anrühren müssen. Das Schwimmbecken da draußen, zum Beispiel. Es erstickt fast unter Laub und Dreck, aber die alten Springbrunnen laufen immer noch; haben Sie darüber jemals nachgedacht? Versuchen Sie nur mal, die Ventile zuzudrehen, Doktor!«
    »Aber wer…?«
    »Lassen Sie ihren Schmuck in Ruhe, Doktor. Ich gebe Ihnen den guten Rat.«
    »Würde es sie zum Sprechen bringen, wenn man etwas ve r änderte?« fragte er kühn; das Ganze machte ihn ungeduldig, und er hatte vor dieser Tante nicht solche Angst wie vor Miss Carl.
    Die Frau lachte. »Nein, sie würde es zu gar nichts bringen«, antwortete sie höhnisch, und lautstark schob sie die Komm o denschublade zu. Die Glasperlen eines Rosenkranzes klinge l ten an einer kleinen Jesusfigur. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen – ich muß auch das Badezimmer pu t zen.«
    Er schaute den bärtigen Jesus an, der mit dem Finger auf die Dornenkrone rings um sein Herz deutete.
    Vielleicht waren sie alle verrückt. Vielleicht würde er selber verrückt werden, wenn er dieses Haus nicht verließ.
     
    Einmal, als er allein im Speiseraum gewesen war, hatte er dieses Wort wieder gesehen, Lasher, in den dicken Staub auf dem Tisch geschrieben, wie mit der Fingerspitze. Mit großem, schmuckvollem L. Was konnte das nur bedeuten? Der Staub war weggewischt gewesen, als er am folgenden Nachmittag wiedergekommen war – das einzige Mal übrigens, daß er je gesehen hatte, daß sich irgendwo jemand am Staub zu scha f fen gemacht hatte, während das silberne Teegeschirr auf dem Sideboard schwarz angelaufen war.
    Wenn er nachts zu Hause in seinem modernen Apartment mit Blick über den See saß, konnte er nicht aufhören, über seine Patientin zu brüten. Er fragte sich, ob ihre Augen wohl offen waren, wenn sie im Bett lag.
    »Vielleicht habe ich die Verpflichtung…« Aber dann wiederum – was für eine Verpflichtung? Ihr Arzt war ein angesehener Psychiater. Es ging nicht an, daß er sein Urteil in Frage stellte. Es ging nicht an, irgend etwas Törichtes auszuprobieren – etwa, mit ihr eine Fahrt aufs Land zu unternehmen oder ihr ein Radio auf die Veranda zu stellen. Oder das Sedativum abz u setzen, um zu sehen, was dann passierte… ?
    Schon der gesunde Menschenverstand gebot, die Medikation hin und wieder zu unterbrechen. Und wie stand es mit einer vollständigen Reevaluation? Zumindest vorschlagen mußte er es.
    »Geben Sie ihr nur die Spritzen«, sagte der alte Arzt. »Bes u chen Sie sie täglich für eine Stunde. Mehr wird von Ihnen nicht verlangt.« Seine Stimme klang merklich kühl. Alter Narr!
    Kein Wunder, daß er so froh war, als er eines Nachmittags zum erstenmal gesehen hatte, wie der Mann sie besuchte.
    Es war Anfang September und immer noch warm. Als er ins Tor einbog, sah er den Mann auf der vergitterten Veranda n e ben ihr: Er sprach offensichtlich mit ihr, und sein Arm ruhte auf der Lehne ihres Stuhls.
    Ein großer, braunhaariger Mann, ziemlich schlank.
    Der Doktor empfand fast ein Gefühl von Eifersucht. Ein Mann, den er nicht kannte, war bei seiner Patientin. Aber tatsächlich war er erpicht darauf, ihn kennenzulernen. Vielleicht würde der Mann ihm manches erklären, was die Frauen ihm verschwi e gen. Und gewiß war er ein guter Freund. Es lag etwas

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