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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zertreten. Und das ganze Th o razin war aus der zerdrückten Plastikphiole auf die blanken Dielen gequollen.
    »Moment mal!« wisperte er. Er hob das kaputte Ding auf und hielt es in den Händen. Natürlich hatte er noch mehr Spritzen dabei, aber dies war jetzt das zweite Mal, daß ihm so etwas… Und unversehens war er wieder an der Bettkante und schaute auf die bewegungslose Patientin hinunter, und er dachte: Wie konnte das – ich meine, was in Gottes Namen geht hier e i gentlich vor?
    Er spürte plötzlich eine intensive Hitze. Etwas bewegte sich im Zimmer, und es rasselte leise. Nur die Perlen des Rosenkra n zes, der um die Messinglampe geschlungen war. Er wischte sich über die Stirn. Dann erkannte er ganz langsam, während er Deirdre immer noch anstarrte, daß eine Gestalt an der a n deren Seite des Bettes stand. Er sah die dunkle Kleidung, eine Weste, ein Jackett mit dunklen Knöpfen. Und dann blickte er auf und sah, daß es der Mann war.
    Im Bruchteil einer Sekunde wandelte sich sein Unglaube in Entsetzen. Diesmal konnte keine Rede sein von Verwirrtheit, von traumartiger Unwirklichkeit. Der Mann war da, und er starrte ihn an. Sanfte braune Augen starrten ihn an. Dann war der Mann einfach verschwunden. Es war kalt im Zimmer. Ein Luftzug hob die Vorhänge. Der Doktor ertappte sich beim R u fen. Nein, beim Schreien, um ganz offen zu sein.
    Am selben Abend um zehn Uhr hatte er den Fall nicht mehr. Der alte Psychiater kam den ganzen Weg heraus zu dem Apartmenthaus am See, um es ihm persönlich zu sagen. Sie waren zusammen zum See hinuntergegangen und spazierten am betonierten Ufer entlang. »Diese alten Familien, mit denen kann man nicht diskutieren. Und Carlotta Mayfair sollten Sie nicht ins Gehege geraten. Die Frau kennt jeden. Sie würden staunen, wie viele Leute ihr wegen dieser oder jener G e schichte verpflichtet sind. Ihr oder Richter Fleming. Und diese Leute haben Besitz in der ganzen Stadt, wenn Sie nur…«
    »Ich sage Ihnen, ich habe es gesehen!« sagte der Doktor u n vermittelt.
    Aber der alte Psychiater ging darüber hinweg. Kaum verho h lenes Mißtrauen war in seinem Blick, als er den jüngeren Arzt von oben bis unten musterte, wenngleich sein freundlicher Ton sich nicht änderte.
    »Diese alten Familien.« Der Doktor sollte nie wieder in das Haus kommen.
    Er sagte nichts weiter. Die Wahrheit war, daß er sich albern vorkam. Er war kein Mann, der an Geister glaubte! Aber de n noch hatte er diese Gestalt gesehen. Dreimal gesehen. Und die nebelhafte, bestimmt seiner Vorstellung entsprungene U n terhaltung konnte er ebenfalls nicht vergessen. Der Mann war dagewesen, ja, aber er war auch wieder nicht dagewesen. Und er hatte den Namen des Mannes gekannt, und – jawohl! Er hieß… Lasher!
    Aber selbst wenn er die traumartige Unterhaltung außer acht ließ – sie der Stille im Haus und der infernalischen Hitze z u schrieb, der Verführungskraft eines in den Baumstamm g e schnitzten Wortes -, ließen sich die anderen beiden Male nicht einfach abtun. Er hatte ein wirkliches, lebendes Wesen ges e hen. Niemand würde ihn dazu bringen, das zu leugnen.
    Als die Wochen vergingen und es ihm nicht gelang, sich durch seine Arbeit im Sanatorium hinreichend abzulenken, da b e gann er über dieses Erlebnis zu schreiben und es detailliert festzuhalten. Das braune Haar des Mannes war leicht wellig gewesen. Die Augen groß. Helle Haut, wie die der armen kranken Frau. Jung war der Mann gewesen, höchstens fün f undzwanzig. Ohne erkennbaren Gesichtsausdruck. Der Doktor konnte sich nicht einmal an die Hände des Mannes erinnern. Es war nichts Besonderes daran, hübsche Hände eben. Es fiel ihm auf, daß der Mann zwar dünn, aber gut proportioniert g e wesen war. Nur die Kleider erschienen ungewöhnlich, und das nicht einmal wegen ihres Schnitts: Der war ganz normal. Es war die Beschaffenheit des Stoffs. Unerklärlich glatt, wie das Gesicht des Mannes. Als wäre die ganze Gestalt – Kleider, Fleisch, Gesicht – aus demselben Material gemacht.
    Eines Morgens erwachte der Doktor mit einem wunderlich kl a ren Gedanken: Der mysteriöse Mann hatte nicht gewollt, daß sie das Sedativum bekam! Er hatte gewußt, daß es schlecht für sie war. Und die Frau war natürlich wehrlos; sie konnte nicht für sich sprechen. Die Erscheinung beschützte sie!
    Aber wer, in Gottes Namen, würde all das jemals glauben? dachte der Doktor. Und er wünschte, er wäre daheim in Maine und arbeitete in der Klinik seines Vaters, nicht in dieser

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