Hexentraum
können, dachte Amanda bitter. Jetzt wusste sie nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Genau wie bei allen anderen.
Sie hatte geglaubt, zu mehreren seien sie sicher, doch trotz all der Verstärkung, die der Mutterzirkel ihnen geschickt hatte, waren sie den Mächten der Finsternis hilflos ausgeliefert gewesen. Soweit sie wusste, war es gut möglich, dass sie und Tommy jetzt allein waren, die beiden einzigen Überlebenden einer furchtbaren Nacht.
Wir haben uns so sehr bemüht. Wir haben so lange durchgehalten. Wie ist es möglich, dass wir versagt haben? Sollte das Gute nicht am Ende siegen?
Sie wünschte, sie könnte Tommy ein paar dieser Fragen stellen, aber sie konnte nichts von ihrer kostbaren Energie dafür opfern. Die Flammen waren ihnen dicht auf den Fersen und rasten durch die Magie, die sie anfachte, noch schneller durch die Nacht. Sie mussten weiterlaufen. Amanda konnte die Hitze spüren, die brennend über ihren Rücken strich. Sie warf einen Blick zu Tommy hinüber. Schweiß lief ihm über das gerötete Gesicht. Ihre Angst isolierte sie von ihm. Obwohl sie ihn liebte, wurde ihr nun bewusst, dass seine Liebe, wie alle Liebe auf der Welt, auch Grenzen hatte. Er konnte ihr das Leben nicht einfach dadurch retten, dass er sie liebte. Er konnte nicht alles wiedergutmachen.
Aber er kann mir helfen, all dem Bedeutung zu verleihen, dachte sie, während sie seinen starken Rücken betrachtete, der durch den Rauch gerade noch zu erkennen war. Es gibt Menschen, für die es sich zu leben lohnt. Und zu sterben. Das ist der Segen, den die Göttin uns gegeben hat... und zugleich der Fluch. Er lässt uns durchhalten und zugleich wünschen, wir könnten aufgeben.
Sie war erschöpft. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie zuletzt richtig geschlafen hatte. Es kam ihr so vor, als hätte sie ihr ganzes Leben mit Kampf und Flucht verbracht. Vor allem Flucht. Vielleicht sollte sie einfach stehen bleiben und sich vom Feuer holen lassen, oder von Michael Deveraux, falls der noch irgendwo hinter ihnen war. Das wäre so viel leichter. Sie war müde und hatte alles so satt.
Doch das Seltsame war: Sosehr sie sich danach sehnte, einfach aufzugeben, sie konnte es nicht. Ein kleiner Funke glühte tief in ihrer Brust - sie fühlte ihn nicht nur, sie spürte ihn geradezu körperlich. Sie wusste nicht, ob das ihre Seele, ihr Bewusstsein, ihr Gewissen oder irgendein anderer magischer Teil ihrer selbst war.
Ich bin eine Lilienfürstin, dachte sie. Eine der Drei Schwestern. Holly trägt den stärksten Anteil unseres magischen Blutes in sich, aber nicht alles. Ich bin eine Hexe aus dem Geschlecht der Cahors, auch wenn mein Nachname Anderson lautet. Nicole und ich sind Abkömmlinge der Cahors, genau wie Holly.
Wenn Holly etwas geschieht... wenn Nicole nicht... wenn sie tot ist, dann bin ich die Einzige...
Sie erstickte ein Schluchzen und schüttelte heftig den Kopf. Sie war von alledem überwältigt. Sie hatte schon ihre Mutter verloren. Daran, dass sie noch mehr geliebte Menschen verloren haben könnte, wollte sie nicht einmal denken.
Nicole und ich sind uns endlich richtig nahe gekommen. Sie darf nicht tot sein. Sie muss leben, denn ich kann keinen weiteren Tod mehr ertragen.
Zweige griffen wie Skeletthände nach ihrem Haar und zerrissen ihre Kleider. Blut lief ihr über die Stirn in die Augen und verwandelte die Welt in ein Meer aus wogendem Rot. Trotzdem rannte sie weiter, und Tommy lief mit ihr. Allmählich hatte sie kaum mehr Hoffnung für Philippe.
Dann zerriss hinter ihr eine weitere Explosion die Nachtluft. Sie riskierte einen Blick über die Schulter. Die Wucht war gewaltig, sie ließ die Erde aufbrechen wie ein albtraumhaftes Erdbeben. Die hohen Bäume neben ihr standen sofort in Flammen, und brennende Zweige und Kiefernzapfen fielen vom Himmel.
Die magische Schockwelle der Explosion schleuderte sie mit solcher Gewalt zu Boden, dass ihre Rippen brachen, eine nach der anderen. Es fühlte sich an, als würden sie aus ihrem Rückgrat gerissen.
Irgendwo in der Nähe schrie Tommy schrill vor Qual.
Die Welt flog in Stücke. Alles brannte lichterloh, sogar der Boden. Sie blickte auf. Eine Schar Vögel ging im Flug in Flammen auf. Die Tiere kreischten wie aus einer Kehle und stürzten in die Flammenhölle des Waldes hinab.
Verzweifelt grub sie die Hände in die Erde und schrie: »Göttin, hilf mir!«
Obwohl der Brand um sie herum tobte, wurde ihr pochendes Herz von Ruhe erfasst, die sie ihre Mitte finden ließ.
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