Hexer-Edition 01: Die Spur des Hexers
zuverlässigen Zeugen genannt hätte. Nein – er war nervös, er war wütend, und er war unsicher – war es da ein Wunder, dass er hinter jedem Schatten ein Gespenst zu sehen begann? Wahrscheinlich würde er in Ben Carson genau das finden, was er nach Miss Lugosis Worten im allerersten Moment erwartet hatte: einen jener starken, selbstgefälligen alten Männer, wie sie dieses Land oft hervorbrachte – und die es groß gemacht hatten! –, und der einfach nicht begriff, dass seine Zeit vorüber war.
Andara stieg ab, führte sein Pferd am Zügel in den Schatten des gewaltigen Felsens und band es sorgfältig an. Dann streifte er seinen Mantel ab, rollte ihn zusammen und legte ihn über den Sattel. Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, als er aus dem Schatten der Felsen heraustrat und sich nach links wandte, in die Richtung, die ihm der Wirt gewiesen hatte. Es war nicht direkt Angst, die er spürte, aber doch etwas sehr mit ihr Verwandtes. Er fühlte eine Gefahr, eine unglaubliche, dräuende Gefahr, ohne sie indes konkret fassen zu können. Was, wenn die Carsons schon wussten, dass er kam, und nur auf ihn warteten? Er war sehr schnell geritten, so dass niemand aus der Wirtsstube ihm hätte zuvorkommen können, aber wenn es jemanden gab, der genau wusste, dass es andere Möglichkeiten der Informationsübermittlung als das gesprochene Wort gab – ungleich viel schnellere und präzisere – dann war er es.
Er verscheuchte den Gedanken, ergriff seinen Spazierstock fester und machte sich auf den Weg. Der Strand stieg an dieser Stelle steil an, bis er nach zwanzig, dreißig Schritten fast unmerklich in eine mit Gras und Unkraut überwachsene Böschung überging, die ihrerseits wieder nach vielleicht zehn Schritten vor der scheinbar undurchdringlichen Mauer eines Waldes endete. Seinen Spazierstock wie eine Machete handhabend, kämpfte sich Andara ein Stückweit durch das schier undurchdringliche Unterholz, bis Bäume und Gebüsch wieder auseinander wichen und er sich unversehens auf einer runden, erstaunlich großen Waldlichtung wieder fand, die jedoch zur Hälfte von einer Ansammlung zyklopischer schwarzer Felstrümmer eingenommen wurde, an deren westliche Flanken sich eine Hütte schmiegte. Er blieb noch einen Moment im Schutze der letzten Büsche stehen und lauschte, vernahm aber nichts außer dem Raunen des Waldes und dem jetzt gedämpften Wispern der Brandung, und so schlich er schließlich weiter.
Er hatte die Hälfte der Lichtung überquert, ehe ihm auffiel, dass die Felsen keine Felsen waren, sondern die zerborstenen Überreste eines ehemals sicherlich gewaltigen Bauwerkes, zyklopische Quader von der Farbe der Nacht, die von unvorstellbaren Gewalten gesprengt und wie Spielzeugklötze über- und durcheinandergeworfen worden waren. Die ursprüngliche Form des Gebäudes war nicht mehr zu erkennen, ja, nicht einmal mehr zu ahnen, doch vermutete Andara anhand seines Grundrisses, dass es sich um eine Art Turm gehandelt haben musste, wenngleich er weder rund noch eckig noch … ja – was eigentlich? gewesen sein konnte. Sämtliche Winkel und Linien – so weit er sie in der Dunkelheit überhaupt erkennen konnte – schienen auf die absurdeste Weise falsch und verschoben, als wären sie nach den Regeln einer Geometrie erschaffen, die alles andere, nur nicht euklidisch war, und wenn er glaubte, irgendwo eine auch nur vage vertraut erscheinende Form zu erkennen, schien sie sich stets sofort seinem Blick zu entziehen. Es war das Verwirrendste – und zugleich Unheimlichste – was er jemals gesehen hatte. Andara verstand plötzlich ein wenig besser, warum die Bewohner von Innsmouth und den umliegenden Orten die Carsons fürchteten. Auch ihm waren Leute, die an einem Ort wie diesem lebten, von vornherein unsympathisch.
Eine Zeit lang betrachtete er stumm diese so sonderbar verkrüppelt wirkende Ruine, dann riss er sich fast gewaltsam von ihrem zugleich abstoßenden wie morbide faszinierenden Anblick los und wandte sich endgültig der Hütte zu. Sie war ein wenig größer als die Jennifer Fallenthorpes, jedoch von der gleichen, einfachen Bauweise, wenn sie auch, im Dunkel der Nacht und voller unguter Ahnungen, wie er sie betrachtete, um etliches düsterer und bedrohlicher wirkte. Aber es war niemand zu sehen, und wenngleich hinter den schmalen Fenstern das ruhige Licht einer Petroleumlampe brannte, war er trotzdem sicher, dass sie leer war.
Er fand die Tür unverschlossen und das Haus leer, ganz wie er vermutet
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