Hexer-Edition 02: Als der Meister starb
überstanden hatten, hatten mittlerweile ebenfalls die Flucht ergriffen; es schien, als hätte man uns vollkommen vergessen. Niemand nahm mehr Notiz von uns.
»Bannermann! Kümmern Sie sich um Ihre Männer!«, keuchte ich. »Wir treffen uns am Strand!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, hetzte ich los, riss das Gewehr hoch und gab noch im Laufen ein paar Warnschüsse in die Luft ab. Das Geräusch ging beinahe im Schreien der Menge unter, aber die Schüsse verschafften mir trotzdem Luft. Die Reihe braungekleideter Gestalten flutete wie eine Welle vor mir zurück. Niemand schien noch daran zu denken, uns Widerstand zu leisten.
Der Mann lebte noch, als ich neben ihm anlangte. Er musste von mindestens einem Dutzend Kugeln getroffen worden sein, aber er lebte. Sein Mantel war rot von Blut, aber seine Augen standen offen, und er schien mich zu erkennen. Ein leises, qualvolles Stöhnen kam über seine Lippen.
»O’Banyon!«, sagte ich ungläubig. »Sie?!«
»Ich … hab’s ihm gegeben«, stöhnte er. Seine Hand zuckte, krallte sich in meinen Mantel und fiel mit einer kraftlosen Bewegung wieder zurück. »Ist er … tot?«, flüsterte er.
»Donhill?« Ich nickte. »Ja. Er ist tot.«
Sein Gesicht zuckte, und trotzdem lief ein rasches, zufriedenes Lächeln über seine Züge. »Dann ist es … gut«, flüsterte er. »Er ist schuld, dass … dass Steve tot ist. Er … hat ihn umgebracht.«
»Reden Sie nicht, O’Banyon«, sagte ich. »Sie dürfen nicht sprechen. Ich hole Ihnen einen Arzt.«
»Das … hat keinen Sinn mehr«, antwortete der Sterbende. Sein Blick verschleierte sich, und plötzlich wurde sein Körper schlaff. Aber noch immer war Leben in ihm.
»Hören Sie … zu, Craven«, flüsterte er. »Ich habe … eine Nachricht für … Sie.«
»Eine Nachricht?«
»Es gibt einen … einen dritten Magier«, murmelte er. Seine Stimme war kaum noch zu verstehen. »Sie müssen … fliehen. Gefahr … noch nicht … vorüber. Es gibt … dritten Magier …«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich. »Wovon reden Sie, O’Banyon? Welchen Magier? Wer hat Ihnen das gesagt?«
O’Banyon antwortete nicht mehr. Er war tot.
Sekundenlang blickte ich schweigend auf sein erschlafftes Gesicht herab. Dann hob ich die Hand, beugte mich vor und schloss ihm behutsam die Augen.
»Ist er tot?«
Ich sah auf, als ich Priscyllas Stimme vernahm. Sie war näher gekommen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Ihr Gesicht wirkte erstaunlich gefasst, aber in ihren Augen war ein Brennen, das ich mir nicht erklären konnte. Wahrscheinlich war sie halb wahnsinnig vor Angst.
»Ja«, antwortete ich. »Er ist tot.«
»Donhill auch«, sagte sie leise. »Ich … habe mich davon überzeugt.« Plötzlich von einer Sekunde zur anderen, war ihre Selbstbeherrschung zu Ende. Sie stieß einen kleinen, schrillen Laut aus, fiel neben mir auf die Knie und warf sich mit aller Macht an meine Brust.
»Bring mich weg hier, Robert«, flehte sie. »Bitte, bitte, bring mich weg.«
Ich umarmte sie behutsam, streichelte ihr Haar und küsste zärtlich ihre Stirn.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Pri«, flüsterte ich. Plötzlich überfiel mich eine Welle der Zärtlichkeit, wie ich sie noch nie zuvor in meinem Leben verspürt hatte. Aber vielleicht war es auch nur Angst, und vielleicht klammerte ich mich genauso Hilfe suchend an sie, wie sie sich an mich. Ich wusste nur, dass ich dieses Mädchen liebte. Es war seltsam, beinahe grotesk – aber in diesem Moment, während rings um uns herum das Chaos tobte, wusste ich mit unerschütterlicher Sicherheit, dass ich sie liebte.
Und sie mich.
Nach einer Weile löste sich Priscylla aus meinen Armen, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und sah mich an. »Was hat er gemeint?«, fragte sie.
»O’Banyon?«
Sie nickte. »Er sagte: Es gibt einen dritten Magier.«
Ich schwieg einen Moment, zuckte hilflos mit den Schultern und drückte sie erneut an mich. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich weiß nur, dass du keine Angst mehr zu haben brauchst, Liebling. Nie wieder. Es ist vorbei. Endgültig.«
Aber das stimmte nicht.
Ich wusste es im gleichen Moment, in dem ich die Worte aussprach. Es war nicht vorbei. Noch lange nicht.
Es fing erst an.
Er rannte um sein Leben.
Sie waren hinter ihm, und obwohl er sie nicht sehen oder hören konnte, spürte er ihre Nähe undeutlich. Sie waren hinter ihm, vielleicht schon vor ihm, irgendwo in der Dunkelheit, die sich wie eine schwarze Wolke über die
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