Hexer-Edition 10: Wer den Tod ruft
erstarrt sitzen.
»Was tut er da?«
Ich drehte mich herum, als ich Yo Mais Stimme erkannte. Der kleinwüchsige Majunde war so leise hinter mich getreten, dass ich seine Schritte nicht einmal gehört hatte, und ganz offensichtlich stand er schon eine ganze Weile da und beobachtete uns.
»Nichts, was dir Grund zur Angst gäbe«, sagte ich hastig. »Er … versucht die Wahrheit herauszubekommen.« Ich deutete auf den Majunde-Zauberer. »Euer Magier hasst uns. Wir wollen wissen, warum.«
»Die Wahrheit?« Yo Mai blickte irritiert auf Shannon und den Magier herab. »Ist er … ein Zauberer?«
»Man könnte es so nennen«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Ja. Das Wort mag für den Augenblick genügen. Aber du brauchst keine Angst zu haben.«
»Angst?« Yo Mai starrte mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er an den Weihnachtsmann glaubte. »Angst?«, wiederholte er. »Ich habe keine Angst, weißer Mann. Keiner von uns hat noch Angst, nach der vergangenen Nacht.«
Das verstand ich nicht, aber Yo Mai redete weiter, ohne mir Gelegenheit zu einer Zwischenfrage zu geben: »Die Götter haben uns gewarnt, weißer Mann. Vor euch. Sie haben gesagt, dass eines Tages ein Weißer kommen wird, der großes Unheil und Leid über das Volk der Majunde bringt. Die alten Prophezeiungen haben vorausgesagt, dass dies geschehen wird. Wir hatten Angst; schon vorher. Jetzt, da es geschehen ist, haben wir keine Angst mehr.« Er brach ab, blickte einen Moment lang an mir vorbei auf die Reihen der stumm dasitzenden Eingeborenen und fügte mit sehr leiser, beinahe tonloser Stimme hinzu: »Wir wissen, dass wir sterben werden.«
Bei jedem anderen und in jeder anderen Situation hätte ich vermutlich über diese Worte gelacht.
Jetzt nicht. Yo Mais Worte waren von einem solchen Ernst, dass ich abermals einen raschen, eisigen Schauer spürte. Trotzdem widersprach ich ihm.
»Niemand spricht vom Sterben, Yo Mai«, sagte ich. »Ihr habt –«
Yo Mai unterbrach mich. »Du weißt nicht die ganze Prophezeiung, weißer Mann«, sagte er. »Die alten Lieder sagen, dass der große Gott selbst sich erheben und seine Feinde verschlingen wird, zusammen mit seinen Kindern. Wir wissen, dass es geschehen wird.«
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff. Der große Gott selbst …
Der Krakatau.
Der gewaltige Vulkan, dessen waldbedeckte Flanken diese Insel bildeten. Unwillkürlich hob ich den Blick und blinzelte zum schwarzen Gipfel des Berges hinauf, der selbst jetzt, im hellen Licht des Tages, noch von einer Krone aus lodernder roter Glast gekrönt war.
Yo Mai lächelte, als er meinen Blick bemerkte. »Du glaubst mir nicht«, sagte er. »Ich habe das erwartet. Aber du wirst es erleben. Es wird nicht mehr lange dauern.«
»Das … das da oben ist kein Gott«, widersprach ich ihm. »Es ist ein Vulkan, Yo Mai, nicht mehr und nicht weniger.« Meine Stimme wurde fast flehend, als ich sein verzeihendes Lächeln sah. »Yo Mai, du bist ein gebildeter Mann!«, fuhr ich fort. »Du sprichst unsere Sprache und hast unter uns gelebt. Eurem Zauberer und dem alten Mann sehe ich es nach, aber du solltest wissen, dass dieser Berg nichts mit irgendwelchen Göttern oder Dämonen zu tun hat.«
»Sollte ich das?«, fragte Yo Mai. »Es mag sein, dass ich ein gebildeter Mann bin, wenn das Erlernen einer fremden Zunge und ein paar Bücher schon Bildung sind, Robert Craven. Doch ich bin auch ein Majunde und wir wissen, dass es mehr Dinge auf der Welt gibt, als in euren Büchern stehen. Was die Alten sagen, wird eintreffen. Ihr Weißen glaubt, alles erklären zu müssen. Dinge, die ihr nicht versteht, leugnet ihr weg und die alten Werte gelten euch nichts. Aber ihr täuscht euch. Du wirst es erleben. Bist du nicht selbst hergekommen, um uns um Beistand zu bitten, Beistand in einem Kampf gegen Wesen, deren Existenz auch Männer deines Volkes verleugnen?«
»Das ist etwas anderes«, widersprach ich, in dem sicheren Bewusstsein, dass es ganz und gar nichts anderes war. Warum fiel es mir plötzlich so schwer, die richtigen Worte zu finden? Die Tatsache, dass es dieser einfache Majunde-Krieger fertiggebracht hatte, mich mit wenigen Worten aus der Fassung zu bringen, irritierte mich.
Yo Mai wollte antworten, aber in diesem Moment erklang neben uns ein leises Stöhnen und als ich zu Shannon hinabsah, sah ich gerade noch, wie der Magier erschlaffte und in seinen Armen zusammensank. Behutsam legte Shannon ihn zu Boden, richtete sich auf und sah erst Yo Mai, dann mich mit deutlicher
Weitere Kostenlose Bücher