Hexer-Edition 18: Endstation Hölle
Augen und empfand die Welt so, wie Talsah sie empfand.
Und doch ein wenig anders; eindringlicher und hinter die Dinge blickend, Vorgänge und Anzeichen erkennend. Er spürte die Schatten, die von Westen heraufzogen, langsam die Hänge der West-Ghats emporkrochen, in die Nähe des oberen Laufes des Bhima gerieten und dort verharrten. Rajniv wandte sich ruckartig um, zog seinen jugendlichen Schüler mit sich und machte ihm durch einen leichten Druck der Hand klar, in welche Richtung er zu blicken wünschte.
»Eine schwarze Wand kommt von Westen«, verkündete er mit leiser Stimme, aus der die Besorgnis klang. »Sie hat angehalten, aber sie wird ihren Weg fortsetzen. Sie wird auch zu uns kommen. Wir werden zusehen müssen, dass wir uns schützen!«
»Dein Schutz ist mir genug, Meister«, erwiderte Talsah. Der Junge mit den dunklen Augen verzog das Gesicht zu einem beruhigenden Lächeln. Rajniv sah es nicht, denn er sah durch Talsahs Augen und konnte ihm daher nicht ins Gesicht blicken. Aber Talsah wandte sich zu ihm um und Rajniv sah sich selbst, den ausgemergelten Körper in dem Gewand, das früher einmal weiß gewesen war und längst ein schmutziges Grau angenommen hatte. Talsah wusch es regelmäßig, drüben an dem kleinen Wasserfall, doch es wurde immer ein wenig grauer und dunkler, mit jedem Jahr, das Rajniv Sundhaies lebte.
»Mein Schutz ist nicht genug, Talsah«, sagte er leise. »Ich bin besorgt und ich weiß, dass es zu meinen Aufgaben gehört, alles abzuwehren. Folge mir!«
Er löste seine Hand aus der des Jungen und schritt davon. Er hielt die pupillenlosen Augen zu Boden gerichtet und hatte den Kopf ein wenig geneigt, um besser hören zu können. Links fiel das Gelände steil in das Tal ab, rechts lag die Kuppe des Hügels, dicht an dicht von Bäumen und Büschen bewachsen, in denen unzählige Vogelarten ihr ewiges Lied trällerten.
Diesmal hatte Rajniv Sundhaies kein Ohr dafür. Er lauschte auf seine Schritte und die Geräusche, die sie erzeugten. Er bewegte sich immer in der Mitte zwischen Hügel und Abhang entlang. Er ging nicht fehl und er fand den schmalen Pfad, der hinab in das Tal führte, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass ein Blinder dahineilte wie ein junger Mann.
Er begann bergab zu schreiten und Talsah folgte ihm, einen Arm nach vorn gestreckt, um ihn zu halten, falls er zu stürzen drohte. Als sie die ersten Weiden auf halber Höhe erreicht hatten, wurden die Schäfer auf Rajniv aufmerksam. Sie erhoben ein Geschrei und sammelten sich, um ihm entgegenzugehen.
»Verschwinde!«, riefen sie ihm zu. »Du verhext unser Vieh und die Weiber werden irr, wenn sie dich sehen!«
»Ich will nicht in das Dorf!«, rief der alte Mann laut und hob die Arme. »Ich will in die Höhle. Ihr könnt es mir nicht verbieten!«
Erste Steine kamen geflogen und einer traf ihn an der Schulter. Talsah stellte sich schützend vor ihn und die Steinwürfe hörten auf. Die Schäfer begannen zu murren, aber schließlich räumten sie das Feld und verschwanden hinter den Bäumen. Talsah aber nahm seinen Lehrer und Meister bei der Hand und führte ihn hinab bis zur Abzweigung in die Schlucht. Der Wasserfall stürzte hier von hoch oben herab, ein kleines Rinnsal, das früher einmal mehr Wasser geführt haben musste und die Schlucht geschaffen hatte. Es war viele Generationen her, wie Rajniv sagte, und weil er es sagte, glaubte Talsah daran. Er hatte noch nie erlebt, dass der Weise vom Berg gesprochen hätte, ohne vorher gründlich zu überlegen.
Wieder sah Rajniv Sundhaies durch die Augen seines Schülers und er riss ihn mit sich und aus seinem Mund kam ein beängstigendes Pfeifen von Luft, ein Geräusch, das Talsah noch nie von ihm vernommen hatte.
»Es eilt«, stieß der Alte hervor. »Etwas geschieht und es ist entsetzlich!«
Er zog ihn davon und schwieg, bis sie die Höhle erreicht hatten. Ein Felsüberhang wies auf den Eingang hin. Sundhaies zog Talsah darunter und deutete auf das Loch, das ihnen dunkel und unheimlich entgegengähnte.
»Führe mich hinein!«, verlangte er. »Verliere keine Zeit!«
Talsah wäre ein schlechter Schüler gewesen, wenn er widersprochen und ihn in lange Streitgespräche verwickelt hätte. Er tat wie geheißen und hielt erst an, als Sundhaies von allein stehen blieb.
»Sie sind angekommen«, hauchte er. »Spürst du es nicht? Nein, du kannst es nicht spüren. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man etwas erfährt, ohne es mit den Augen zu sehen. Damals, ja da hat es bei
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