Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
ihre Lippen.
Dann plötzlich sah sie eine Gestalt vor sich. Der Anblick währte nur einen Herzschlag lang, aber Sill wusste, dass es etwas gab, das sie mit dem unbekannten Mann mit der seltsamen weißen Haarsträhne verband, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte ihn schon einmal gesehen zu haben. Dünne Pflanzenarme, wie peitschende Tentakel, schoben sich über das Bild.
Im nächsten Moment zerbarst die Welt um sie herum in einer gewaltigen Explosion schlagartig freiwerdender magischer Energien, die sich auf den unbekannten Mann konzentrierten.
Der Marsch war nicht weniger beschwerlich als beim ersten Mal. Madur hielt es für zu gefährlich auf den Wegen zu gehen, deshalb brachen wir mitten durch das Unterholz. Der Dschungel war stellenweise so dicht, dass wir für jeden Schritt mehrere Minuten brauchten, bis die Sree mit ihren Schwertern Gebüsch und Schlingpflanzen zerteilt hatten. Der Boden war morastig und schien bei jedem Schritt mit gierigen Händen nach meinen Schuhen zu greifen, sodass ich die Füße oftmals nur gewaltsam frei bekam. Obwohl wir kaum eine Stunde unterwegs waren, hatten meine Muskeln sich bereits verkrampft und reagierten mit wildem Schmerz auf jede Bewegung.
Und doch gab es einen grundlegenden Unterschied zu meinem ersten Marsch durch den Dschungel. Diesmal wurde ich nicht als Gefangener mitgeschleift, sondern merkte, wie man auf mich Rücksicht nahm. Madur hatte mir sogar angeboten mir eine Trage bauen zu lassen, damit die Sree mich tragen konnten.
Mittlerweile bedauerte ich es fast schon das Angebot so entschieden abgelehnt zu haben, doch eher hätte ich mir die Zunge abgebissen, als darum zu bitten nun doch getragen zu werden. Mir war alles verhasst, was mit Sklaverei zu tun hatte, und um nichts anderes handelte es sich hier. Trotz ihres Aussehens waren die Sree keineswegs Tiere, sondern intelligente Wesen, auch wenn Madur in diesem Punkt grundlegend anderer Ansicht zu sein schien. Mich würde nicht wundern, wenn er und die anderen Inguré diesbezüglich noch einmal eine böse Überraschung erleben würden.
Nachdem Aneh eingesehen hatte, dass sie mich von meinem Vorhaben nicht abbringen konnte, hatte sie mir einen Vorschlag unterbreitet. Zwischen den beiden Türmen gab es einen See, der durch einen unterirdischen Stollen mit dem uns umgebenden Meer verbunden war. Sie hatte eine grobe Zeichnung angefertigt, die mir zeigte, dass die unterirdische Luftblase sich keineswegs rund, sondern in Form eines Halbmondes erstreckte. Während wir auf dem Landweg der Krümmung folgen mussten, konnte ich meinen Weg auf diese Art um ein beträchtliches Stück abkürzen. Aneh würde mit Hilfe des Magierkreises eine schützende Luftblase für mich erschaffen. Um Zeit zu sparen, war ich nach kurzem Überlegen auf den Vorschlag eingegangen.
»Wie weit ist es noch zum See?«, wandte ich mich an Madur.
Er musterte mich mit verdecktem Spott, der gerade noch an der Grenze zur Unverschämtheit lag. Überhaupt hatte sich sein Verhalten geändert, seit wir den Turm verlassen hatten. Er behandelte mich immer noch ehrerbietig, aber es war eine Form von Ehrerbietung, bei der es ihm gelang, mir mit jedem Wort und jeder Geste deutlich zu machen, wie überlegen er mir hier war.
»Etwas weniger als zwei Meilen. Wenn wir nicht zwischendurch noch ein paar Ancen-Honks zur Hölle schicken müssen, können wir es also in drei bis vier Stunden schaffen. Wünscht Ihr eine Rast? Wir können auch immer noch umkehren.«
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich mich am liebsten an Ort und Stelle hingesetzt hätte. Madur wartete nur auf ein solches Zeichen von Schwäche, doch da konnte er lange warten. Ich dachte auch gar nicht daran umzukehren. Er hatte von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass er gegen das ganze Unternehmen war. Mittlerweile gingen mir seine ständigen Versuche mich zur Umkehr zu bewegen mächtig auf die Nerven.
Einen Augenblick war mir, als hätte ich hinter mir im Dickicht des Dschungels eine schwache Bewegung wahrgenommen. Als ich genauer hinsah, glaubte ich für einen Augenblick etwas wie ein dunkles Fell zu entdecken, das einem Tier gehören mochte, vielleicht aber auch einem Sree.
Ich machte Madur darauf aufmerksam. Er beobachtete das Dickicht einige Sekunden lang, trat sogar ein paar Schritte darauf zu, dann schüttelte er den Kopf.
»Dort ist niemand. Ihr müsst Euch getäuscht haben. Einen Ancen-Spion hätten wir schon längst entdeckt.«
»Hoffentlich«, murmelte ich, doch Madur
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