Hi, Society
Lichter der Stadt, während sich vor ihrem Auge ein verschwommenes Bild ausbreitete.
1989. Es war in Wien. Sie war Elevin in der Ballettschule der Wiener Staatsoper. Alles, woran sie sich erinnern konnte, war das Training, die Schmerzen in den Beinen und dass sie immerzu Hunger hatte. Der Alltag einer heranwachsenden Ballerina hatte nicht viel gemeinsam mit den impressionistischen Darstellungen von Edgar Degas’ Pastellgemälden, die Katharina so viele Male in den Räumen des Belvederes bestaunt hatte. Es war eine Gratwanderung an Disziplin, hartem Training und noch härterem Verzicht. Die drei höchsten Tugenden, mit denen sie großgeworden war.
Ihr Vater stammte aus Vietnam. Einem der ärmsten Länder Asiens. Er wuchs in einem buddhistischen Waisenhaus am Ufer des Mekong, des heiligen Flusses auf, dem magische Kräfte zugeschrieben werden. Womöglich war darin die Erklärung zu finden, dass er es schließlich bis Hongkong, zu einem Abschluss in Pharmazie an der dortigen Universität und Jahre später einer eigenen Apotheke in der Wiener Innenstadt gebracht hatte. Übrigens die glorreiche Endstation in einem Leben, das, von vielen Ortswechseln und zahlreichen Rückschlägen gepflastert, ihm eben jene Disziplin abverlangte, welche er auch seiner Tochter mitzugeben vermochte. Katharina war ebenso zäh, bescheiden und anspruchslos, allerdings gepaart mit einer unbändigen Leidenschaft für den Tanz. Und dies machte sie zu den Besten, wenn nicht gar der Besten ihres Jahrgangs.
Eines Tages, sie übten eben mit Madame Sulpine an der Barre, der Stange, als der Direktor den Raum betrat. Er ließ sie ihre Übungen abbrechen und informierte sie sodann, dass es Pläne gäbe, erstmals bei der Übertragung des Neujahrskonzertes der Wiener Philharmoniker eine Elevin tanzen zu lassen. Eine Symphonie des jungen Mozarts solle es sein und man wolle die Solistin durch das Eingangsfoyer hinauf durch die Kuppelhalle des Kunsthistorischen Museums tanzen lassen, wo dann die Primaballerina übernehme. Katharina Thor wusste, dass das Neujahrskonzert in mehr als 70 Länder übertragen wurde, dass mehr als 45 Millionen Zuseher weltweit dabei sein würden, dass Valentino die Kostüme kreierte und sie die Rolle haben musste. Also trainierte sie noch härter als sonst, aß noch weniger und wurde dennoch nur Zweitbesetzung. Die Rolle bekam Irina und Katharina bald darauf eine Fraktur des Sprunggelenks. Das war das Ende ihrer Karriere als Tänzerin und der Beginn ihrer Schauspielausbildung am Wiener Max-Reinhardt-Seminar.
Es war wie ein Fluch, der über ihr lastete. Schon ihr ganzes Leben lang. Sie war gut, aber nie gut genug. Sie war die Nebenrolle, die Zweitbesetzung. Nicht nur auf der Bühne, auch im wahren Leben war sie nie die Ehefrau, die Verlobte. Sie hatte es so satt. Nein, vielmehr hatte sie sie satt. Dieses verwöhnte Grafen-Töchterlein, das alles an sich riss. Die Männer, die Rollen, den Erfolg. Ihr ganzes Leben hatte sie sich für nichts und niemanden anstrengen müssen und nun vermutlich schon bald einen Oscar in der Tasche. Es gab Gerüchte – ernstzunehmende –, dass Marie von Stetten für ihre Rolle in Tarantinos Kriegsfilm mit einem Golden Globe nominiert werden würde, und als wäre das nicht bereits zu viel an unangemessener Auszeichnung für bestenfalls ein schauspielerndes Zufallsmodel, die Stimmen mehrten sich, welche ihr große Chancen auf eine Nominierung der Filmakademie zusprachen, schließlich war es allgemein bekannt, dass die Akademie besonders gern Auszeichnungen an Filme vergab, welche den Holocaust thematisierten. Schindlers Liste, Der Pianist, Das Leben ist schön, Inglorious Bastards … Die Aufzählung ließe sich ewig fortführen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Marie in der absoluten A-Liga der Hollywoodstars angelangt sein würde. Oder war sie es vielleicht bereits?
Nein! Mitnichten. Es gehörte mehr dazu als ein Paar voller Lippen und ein prominenter Freund, um seinen Namen am Walk of Fame verewigt zu sehen, und so begeistert Amerikaner jedem noch so unbedeutenden europäischen Adelsspross begegneten, so sehr verurteilten sie einen moralisch flatterhaften Lebenswandel. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, ehe Marie von Stetten zu Fall kommen würde und es wäre ein tiefer, dessen war sich Katharina sicher. Sie hatte das geeignete Mittel und genügend Beweise. Albert Wittgenstein war ein furchtbar eingebildeter Schnösel. Er war einer dieser seltenen Aristokraten, die noch immer nicht
Weitere Kostenlose Bücher