High Fidelity (German Edition)
Entscheidungsprozeß. Ich könnte auch nicht behaupten, daß sie anfing, mit mir zu gehen: Das Problem liegt in der Formulierung »mit jemandem gehen«, denn sie unterstellt irgendeine Art von Übereinstimmung und Ebenbürtigkeit. Was passierte, war, daß David Ashworths Schwester Alison sich von dem weiblichen Trüppchen löste, das sich jeden Abend bei der Bank versammelte, und mich unter ihre Fittiche nahm, sich unterhakte und mich von der Schiffsschaukel entführte.
Heute weiß ich nicht mehr, wie sie das anstellte. Ich glaube, selbst damals war es mir nicht klar, denn ich entsinne mich noch gut, wie völlig perplex ich plötzlich mitten in unserem ersten Kuß war, weil ich mir nicht im geringsten erklären konnte, wie Alison Ashworth und ich so intim hatten werden können. Mir war nicht mal klar, wie ich auf ihrer Seite des Parks gelandet war, weit weg von ihrem Bruder und Mark Godfrey und den übrigen, oder wieso wir uns von Alisons Haufen abgesetzt hatten, oder wieso sie mir ihr Gesicht zuneigte, damit ich wußte, daß von mir erwartet wurde, meinen Mund auf ihren zu drücken. Die ganze Episode widersetzt sich jeder rationalen Erklärung. Aber all diese Dinge geschahen, und sie wiederholten sich, die meisten von ihnen auch am folgenden Abend und am Abend darauf.
Wie kam ich dazu? Wie kam sie dazu? Wenn ich heute Menschen auf diese Weise küsse, mit Mund und Zunge und allen Schikanen, dann nur, weil ich auch andere Dinge will: Sex, Freitagabende im Kino, Gesellschaft und Gespräche, sich überschneidende Familien-und Freundeskreise, heiße Zitrone ans Bett gebracht bekommen, wenn ich krank bin, ein neues Paar offene Ohren für meine Platten und CDs, vielleicht einen kleinen Jungen namens Jack oder ein kleines Mädchen namens Holly oder Maisie, da hab' ich mich noch nicht entschieden. Aber nichts von all dem wollte ich von Alison Ashworth. Keine Kinder, denn wir waren Kinder, und keine Freitagabende im Kino, denn wir gingen Samstag morgens, und keine heiße Zitrone, darum kümmerte sich meine Mum, nicht einmal Sex, Sex schon gar nicht, lieber Gott, keinen Sex, die schmutzigste und erschreckendste Erfindung der frühen Siebziger.
Was sollte die Knutscherei also? Die Wahrheit ist, sie hatte nichts zu bedeuten; wir tappten einfach im dunkeln. Es war zum Teil Nachahmung (Leute, die ich bis 1972 habe küssen sehen: James Bond, Simon Templar › Anmerkung , Napoleon Solo, Barbara Windsor und Sid James oder vielleicht Jim Dale, Elsie Tanner, Omar Sharif und Julie Christie, Elvis und jede Menge Menschen in schwarzweiß, denen meine Mum dabei zusehen wollte, obwohl sie den Kopf immer so steif hielten), zum Teil hormonelle Willkür, zum Teil Gruppenzwang (Kevin Bannister und Elizabeth Barnes machten es schon seit ein paar Wochen), zum Teil blinde Panik … da gab es kein Bewußtsein, kein Verlangen und kein Vergnügen, abgesehen von einer ungewohnten und halbwegs angenehmen Wärme im Unterleib. Wir waren junge Tiere, was nicht bedeutet, daß wir uns am Ende der Woche die Pullunder vom Leib rissen, sondern nur, daß wir, metaphorisch gesagt, begonnen hatten, an unseren Hinterteilen zu schnüffeln und den Geruch nicht gänzlich abstoßend fanden.
Aber jetzt kommt's, Laura. Als ich am vierten Abend unserer Beziehung im Park erschien, saß Alison mit Kevin Bannister im Arm auf der Bank, und von Elizabeth Barnes keine Spur. Niemand, weder Alison noch Kevin, noch ich selbst, noch die sexuell uneingeweihten Spätentwickler, die an der Schaukel baumelten, sagte ein Wort. Ich erstarrte, ich wurde knallrot und hatte auf einmal verlernt zu laufen, ohne mir dabei jedes einzelnen Körperteils bewußt zu sein. Was tun? Wohin gehen? Ich wollte mich nicht prügeln, ich wollte nicht mit den beiden rumsitzen, ich wollte nicht nach Hause gehen. Also steuerte ich, ganz auf die leeren Players-Packungen konzentriert, die den Weg zwischen den Mädchen und den Jungen markierten, und ohne auf-, nach hinten oder zur Seite zu blicken, zurück ins Rudel der einzelnen Männchen, die an der Schiffsschaukel hingen. Auf halbem Weg unterlief mir meine einzige Fehlleistung: Ich blieb stehen und sah auf meine Uhr, obwohl ich ums Verrecken nicht sagen könnte, was ich damit ausdrücken wollte oder wem ich damit etwas vorzumachen hoffte. Wieviel Uhr muß es sein, damit ein dreizehnjähriger Junge ein Mädchen stehenläßt und sich mit schwitzenden Handflächen, rasendem Herz, verzweifelt mit den Tränen kämpfend, auf den Spielplatz verzieht? Bestimmt
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