High Heels im Hühnerstall
deutlich verschlimmern und für alle noch schwieriger machen würde. Sophie überlegte kurz, ob sie Seth auf der kurzen Fahrt zum Haus seiner Mutter begleiten, ihn bei ihr abliefern und zugleich ihren Verlobten abholen sollte, aber so verlockend dieser Gedanke auch sein mochte, es war keine gute Idee. Das Letzte, was Louis jetzt brauchte, war ein Abholkommando. Sie musste ihm seinen Freiraum lassen, und wenn sie sich in der Zeit irgendwie um seinen Sohn kümmern konnte, umso besser.
Die dritte Option war, dass sie ihn in die Pension mitnehmen könnte. Schließlich war Mrs Alexander in Louis’ Haus, und sie wusste, dass in der Pension ein paar Zimmer frei waren. Sie könnte Seths Übernachtung in einem Einzelzimmer bezahlen, ihm Kaffee und Aspirin einflößen und ihn dann, sobald er wieder nüchtern war, dazu überreden, Louis noch eine zweite Chance zu geben. Sophie dachte noch ein paar Augenblicke über ihren Plan nach und suchte nach irgendwelchen fatalen Schwachstellen, aber da sie keine entdecken konnte, beschloss sie, Seth ins Avalon mitzunehmen. Schließlich war sie praktisch seine Stiefmutter. Irgendwie war sie für ihn verantwortlich, und indem sie sich um ihn kümmerte, zeigte sie Louis, dass sie sich Mühe gab und wirklich ein Teil seines Lebens sein konnte, so kompliziert und schwierig es auch häufig zu sein schien.
Sophie tippte zuerst Cals, dann Carmens Nummer in ihr Handy. Keiner meldete sich, deshalb hinterließ sie auf Carmens Mailbox eine Nachricht, dass sie nach Hause fahren und die beiden in der Pension treffen würde. Sie hätte von Seth erzählen können, aber das hätte lange gedauert, und er rutschte nach und nach an der Mauer hinab wie jene klebrigen kleinen Tintenfische, die damals, als sie noch zur Schule ging, der letzte Schrei gewesen waren.
»Jetzt komm«, sagte sie und zerrte ihn auf die Beine, sodass er sich auf sie stützen konnte. »Dort ist ein Taxi.«
»Wo soll ich hin?«, lallte Seth. »Zwing mich nicht, zurückzufahren, denn wenn er noch da ist, …«
»Nein, du kommst mit zu mir«, erklärte Sophie.
»Super«, sagte er und grinste sie an, während sie ihn ins Taxi bugsierte und sich dann neben ihn setzte.
»Nein, nicht das, was du denkst. Ich wohne in einer Pension und stecke dich in eines der freien Zimmer, damit du deinen Rausch ausschlafen kannst, und wenn du willst, können wir morgen früh reden.«
»Oder wir können uns jetzt einfach küssen«, antwortete Seth und strich mit der Hand ihren Oberschenkel hinauf. »Ich mag ältere Frauen, ich mag ältere Frauen sogar sehr.«
»Seth«, sagte Sophie und schob seine Hand von ihrem Schenkel, »nur damit das klar ist, ich werde dich auf gar keinen Fall und unter keinen Umständen jemals küssen.«
»Das werden wir ja sehen«, erwiderte er, und das gleiche süße Lächeln wie zuvor umspielte seine Lippen. Und dann schlief er ein.
»Das ist er also?«, fragte Grace Tregowan, als Sophie Seth unter einigen Schwierigkeiten auf Mrs Alexanders mit Rosen bedrucktem Sofa absetzte und sich dabei eine leichte Rückenzerrung zuzog. »Der uneheliche Nachwuchs. Er ist ein echter Hingucker, nicht wahr? Eine hervorragende Gelegenheit für Sie, sich einen Besseren zu angeln.«
»Mrs Tregowan!«, empörte sich Sophie. »Er ist doch fast noch ein Kind!«
Trotzdem fiel es ihr schwer, den Schwung seiner dunklen Wimpern und die volle Unterlippe seines im Schlaf leicht geöffneten Mundes nicht zu bewundern.
»Ich sag Ihnen was«, erklärte Grace, die Seth von oben bis unten mit einer Miene begutachtete, die Sophie auf den Gedanken brachte, dass sie nicht nur seine Wimpern bewunderte, »wenn ich sechzig Jahre jünger wäre, würde ich ihm das eine oder andere beibringen …«
»Wieso sind Sie überhaupt noch auf?«, flüsterte Sophie, als Grace in ihren rosafarbenen Plüschslippern hinter ihr in die Küche getapst kam. Sophie hatte beschlossen, das Risiko einzugehen, Mrs Alexanders Unmut auf sich zu ziehen, und brühte eine Kanne starken Kaffee auf, der eigentlich nur für das Frühstück gedacht war (nach elf Uhr am Vormittag gab es immer nur Instantkaffee).
»Je älter man wird, desto weniger Schlaf braucht man«, antwortete Grace. »Ich glaube, das liegt daran, dass man weiß, dass der Tod näher rückt, und je näher er kommt, umso weniger Leben hat man übrig und desto weniger will man versäumen, indem man von vergangenen Zeiten träumt.«
»Sie werden ewig leben«, sagte Sophie, als Grace sich ein wenig steif auf einen von Mrs
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