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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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bewegt sich, aber sie bringt keinen Ton hervor. Sie wirkt sehr aufgeregt, ihre Augen wandern unruhig hin und her. Sie scheint sich vor irgendwas zu fürchten. Ich gehe auf sie zu. Sie schrickt zurück, ihre vielen Federn klimpern metallisch. Ich gehe weiter auf sie zu, sie öffnet das Fenster und springt hinaus. Bevor sie auf dem Boden aufschlägt, schwingt sie sich hoch in die Luft. Ich will es ihr nachmachen und kippe aus dem Fenster. Zum Glück wache ich auf.
    Ich bemerke kaum, wie die einzelnen Tage vorbeirasen: Es müsste der 52. sein. Eine nach der anderen lösche ich die Nachrichten aus meinem YBW -E-Mail-Account. Ich bin präpariert genug, um von hier an alleine weiterzugehen. Ich zünde eine Zigarette an und habe Durst. Ich schreibe: Brauche Wasser, Karo. Sonst werde ich noch vom Haussperling zum Dreckspatz. Einen Sechser-Träger.
    Ich klicke mich ins Spiel: zum 40. Mal. Der Dönerspieß dreht sich, wird Schicht um Schicht abgetragen. Ein etwas größerer Zettel wird unter der Tür hindurchgeschoben: Ist das eigentlich Deine Schrift? Du hast früher nicht so gekrakelt. Und: kein Sechser. Du weißt, wir dulden keine Plastikflaschen. Anbei habe ich Dir eine Sprudelflasche, Römerquelle, gegeben und ein Brett Wellenbutterbrote. Wie früher. Und Vater will, dass Du seine Pastillen nicht vergisst. Die liegen in der Kiste. Da ist überdies ein verspäteter Osterhase. Und: Was soll denn das heißen: »vom Haussperling zum Dreckspatz«? Willst Du Dich jetzt dem Waschen verweigern und Dich mit Sprudelwasser übergießen? Nebenbei: Ich finde die Zettelidee echt filmisch, schreib doch Drehbücher, lieber Till. – Karo.
    Wir arrangieren uns immer besser. Wenn ich sie Karo nenne, fühlt sie sich um zwanzig Jahre jünger. Das bin ich ihr schuldig. Saust Vater aus der Tiefgarage, klopft sie an die Tür. »Frühstück«, sagt sie, legt eine Butterbrezel auf die Schwelle, wartet ein paar Sekunden und entschwindet in den Elterntrakt. Ich klaube die schmutzigen Teller und die Obstschalen zusammen, sortiere die Wasserflaschen in den Kasten. Donnerstag gab es Spinat mit Spiegelei und Kartoffeln, am Freitag Curry, am Samstag Armer Ritter, am Sonntag Rindsrouladen mit Wirsing, montags gibt es immer Reste. Es ist, als ob mich ein Gourmet-Frachter versorgt. Auf einen Zettel schreibe ich: Liebe Karo, ich bräuchte ein paar Umzugskartons. Ich werde die letzten Jahre, was davon über ist, in die Kartons verbannen und im Keller versenken. Nicht dass die letzten Jahre schlimm oder dergleichen waren, ich kann sie nur nicht mehr sehen. – Till. PS : Zigaretten . Den Zettel lege ich zum benutzten Geschirr und stelle alles in den Flur hinaus. Die Idee mit den Zetteln war eine der besten der letzten Jahre. Mutter sieht das ähnlich. Sie schreibt gerne. Vielleicht entdeckt sie noch ihre lyrische Seite.
    Für das Mittagessen macht sie jeden Vormittag Vorschläge. Vor ein paar Tagen schrieb sie: Wie wär’s mit a) Grünkernrisotto oder b) Mangoldauflauf. PS : Vater ist ganz stolz auf Dich, dass Du endlich Deinen Körper zu schätzen lernst. Und das von alleine! – Karo . Sie macht es sich zunutze, dass ich nicht mehr herauskomme, ergreift die Gelegenheit, mich gesund zu mästen und von der Zigarettenlieferung ein paar quasi als Wegzoll einzubehalten. Wegen des gesunden Essens werde ich am Ende noch um Jahre länger leben. Das ist kein Gefängnis, in das ich mich gesperrt habe, es gibt keine Gitter, keine Stahltür, keine Wächter – und es steht keine Entlassung in Aussicht. Stattdessen bin ich mittlerweile zum Gast eines Wellnesshotels geworden. Der einzige. Nett, wie ich bin, antworte ich: Ich bin, liebe Karo, mit Mangoldauflauf einverstanden. PS : Ich habe ein Tier aus Mexiko bestellt. Playa Azul, Tulum, nicht weit von da! Also nicht wundern, wenn es in den nächsten Wochen eintrifft.
    Bis zum Mittagessen entschwindet sie in ihren SchauRaum . Ich kann nicht sagen, was sie dort macht. Ich kann nicht einmal sagen, wie es dort aussieht. Seitdem Anna-Marie und ich die täglichen Wege alleine gehen konnten, in der Schule zu essen bekamen, uns nach dem Style unserer Freunde richteten, waren viele ihrer Aufgaben plötzlich hinfällig. Sie wurde daraufhin teilweise unausstehlich, saß den ganzen Tag träge herum, wusste nichts mit sich anzufangen und meckerte stattdessen über den ästhetisch wenig ausgefeilten Lebensstil der anderen Leute. Wo Vater das Leben interessierte, begeisterte sich Mutter für die Form. »So kann man doch kein Zimmer

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