Hikikomori
beinahe die Lenker streiften, um durch weniger Luftwiderstand noch den letzten Rest aus den Motoren zu holen. – Kein Luftwiderstand war das Motto der ganzen Reise. Als es dunkelte, rollten wir auf den ersten Campingplatz auf italienischer Seite. Die Luft roch nach Oregano, das Gezirpe war so laut, dass wir dem Campingwart ins Ohr brüllen mussten. Wir brüllten, was wir auf Italienisch gelernt hatten, obwohl der ältere Herr mit Fischerweste und Sonnenhut uns konsequent auf Deutsch antwortete. Wir kauften ihm ein gebrauchtes Zelt überteuert ab, diesmal zog ich meine Karte durch, und in der Nacht tranken wir Unmengen Bier.
Am nächsten Morgen rächten wir uns an dem Wart, indem wir an der Absperrung vorbeifuhren und johlend zur Poebene hinabsteuerten. Mittags hielten wir am ersten seriös wirkenden sala giochi, spielten Double Dragon , tranken zuerst wunderbaren Caffè, später Bier aus kleinen, holländischen Flaschen. Danach kamen wir nicht mehr besonders weit, es war wieder dunkel und wir schlugen unser Lager in einem ausgetrockneten Flussbett auf. Unter einer hölzernen Brücke fanden wir Platz, denn es hatte leicht zu regnen begonnen. Als wir am nächsten Tag unsere wenigen Sachen zusammengepackt hatten, stand ein Trupp Touristen auf der Brücke, die uns angafften, während wir langsam aus dem Flussbett kletterten. Oben angekommen, sahen wir, warum: das Flussbett war ein Burggraben, die Brücke eine Zugbrücke, und direkt dahinter ein Schloss. Ich schoss das Foto: Jan umringt von einer Gruppe hübscher flämischer Pfadfinderinnen. Dann fuhren wir davon.
Jan sah das Meer natürlich als Erster. Es war eigentlich unspektakulär, wir hatten oft mit unseren Eltern Zwischenstopps auf unseren Kultururlauben dort eingelegt. Nachdem uns ein deutsches Opel-Pärchen den Vogel gezeigt hatte, sah ich den passenden Campingplatz, Jan Minuten später die passenden Mädchen. Die Gemeinschaftsduschen entdeckten wir gleichzeitig. »Na, zu viel versprochen?«, sagte er.
Mutter hat die letzten Tage nicht auf meine Nachrichten reagiert. Jemand scheint mich zu boykottieren. Ich ändere den Plan, drücke mein Ohr an die Tür. Ich warte, bis ich Mutters Schritte höre. Das kann ich mittlerweile unterscheiden: Anna-Marie geht, als tänzele sie, Vater trampelt, Mutter geht forsch, zielstrebig, dann bleibt sie abrupt irgendwo stehen, schaut sich etwas an, hantiert an etwas herum, bis sie wieder weitergeht, dann wieder stehen bleibt.
Ich warte lange, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Sie steht am Eingang, dann vor dem Sideboard. Als sie sich in meine Richtung aufmacht, schiebe ich den Zettel unter der Tür durch. Dort bleibt sie stehen. Ich höre ihren Atem. Ihr Knie knackt leise. Ein Rascheln. Sie hält den Atem an. Ich halte den Atem an, die Nase an die Tür gepresst. Ich höre sie im Arbeitszimmer verschwinden. Dann wieder Stille, dann wieder, wie sie direkt auf meine Tür zueilt, den ersten Zettel durch den Spalt schiebt. Ich lese: Salami oder Käse? Der Zulieferer hat Kontakt aufgenommen! Auf der Rückseite ihres Zettels antworte ich: Bitte. Salami und Käse, Mama. Das hilft mir weiter – ein Till-Projekt, und vertrete mir die Füße.
Es dauert eine Weile, bis Mutter wiederkommt. Ich lese: Es liegt bereit. Durch den Zettel ist ein Faden gestochen, der unter der Tür verschwindet. Ich ziehe am Faden, als wolle ich einen ausgeworfenen Köder einholen. Da korkt ein Gegenstand, weich, gegen die Tür. Ich öffne die Tür und angele mir das Brötchen. Das seltsame Gewächs Mutter ist spurlos verschwunden, die Versorgung aber geglückt. Hungrig beiße ich in das Brötchen und kaue plötzlich auf einem Zettel herum. Willst Du zum Mittagessen a) Grünkern, b) Wirsing oder c) Kürbiscreme?
Ich verschlinge die zweite Hälfte des Brötchens. Ich hasse Wirsing, Kürbiscreme und Grünkern. Grünkern ist ein Witz. Nicht mal sie isst das. Ich reiße einen weiteren Papierfetzen vom Block und schreibe: Die Spielregeln gefallen mir nicht – c.
Bevor er unter die Dusche springt, frühstückt Vater Tonnen von Ananas und magerem Joghurt. »Wie die Olmeken«, sagt er, »den Tag mit dem Biss in die Sonne beginnen, dann in der Cenote X-Kekén den Wasserfall herniederprasseln lassen.« Vater war als Backpacker überall in der Welt gewesen, als es den Begriff Backpacker noch gar nicht gab. Daher hat er manchmal diese sonderbaren Ausdrücke für etwas, wozu andere schlicht »duschen« sagen würden. Auch jetzt ist er noch viel unterwegs,
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