Hikikomori
den USA aus dem Flugzeug«, sagt Anna-Marie. »Bekannte besuchen und dergleichen.« Sie zwinkert ihm zu.
»Mit deinem Freund, wie hieß er noch mal?«
»Meinst du den Kay?«
Jan nickt.
»Nee«, sagt Anna-Marie. »Seit einer Ewigkeit nicht mehr. – Mit dir natürlich!« Sie grinst. Ein Blitz erhellt grell das Zimmer, diesmal bleibt der Donner aus.
Oskar erscheint im Wohnzimmer, die Golftasche stellt er in der Ecke ab: »So ein Mistwetter.«
Jan steht zur Begrüßung auf, ihre Hände keilen ineinander und drücken herzlich zu. »Gratuliere!«, sagt Oskar.
»Danke.« Jan und Oskar setzen sich neben Anna-Marie, so dass sich ihre Oberarme und Beine berühren. Karola klappert in der Küche.
»Überspringen wir den Smalltalk.«
»Einverstanden«, sagt Jan.
»Gut«, sagt Oskar. »Wo waren wir letztens stehen geblieben?«
»Das ist eine Weile her.«
»Schon vergessen?«
»Es ging, glaube ich, darum, wie wir, Till und ich, unsere Form finden sollten. Also Form im Charaktersinne oder so.«
»Genau«, Oskar leuchtet. »Also aktualisieren wir. Die schulische Prägung ist nun vorbei. Wie kann es da weitergehen?«
»In die weite Welt hinaus. So bald wie nur möglich.«
»Gut.« Oskar reibt sich das unrasierte Kinn. »Dein Ich sollte nämlich bis zum 21. Lebensjahr ausgeprägt sein, so hatten wir das gesagt.«
Jan nickt, Anna-Marie macht von den beiden mit dem Smartphone ein Foto, tippt schnell auf der Tastatur des Displays.
»Es sollte sich als Ich begriffen haben, nicht nur als etwas, das Teil einer Familie oder einer größeren Gruppe ist, sondern als ein Individuelles, als eben ein Unteilbares, das nicht einfach mit einem anderen verschmilzt.«
Jan nickt, die zweite Grissini-Packung ist bereits zur Hälfte leer.
»Und jeder will am liebsten sein Ich diffundieren lassen, die Verantwortung in die Hände anderer legen, im Fußballverein, in der Peer Group. Oder in irgendwelchen Beziehungen untergehen. Ich meine, mal unter uns, was ist denn Sex überhaupt? Ich meine, das ist doch nichts weiter als ein kümmerlicher Versuch, das Ich, das nicht das Andere ist, für einen kurzen Moment aufzuheben.«
Jan nickt, nimmt einen Schluck, Anna-Marie tippt unbeirrt weiter. Karola klappert mit etwas im Flur. Ab und an zerschneidet ein Blitz den Himmel.
»Das Ich wird bis zum 21. Lebensjahr so sehr vereinsamen wie zu keinem anderen Zeitpunkt. Das merkst du bestimmt. Der Hort der Schule löst sich vor deinen Augen auf, alle deine Freunde fliegen in unterschiedliche Richtungen aus, da wird keiner mehr zurückkommen, wie er gegangen ist. Da wirst du auf dich allein gestellt sein. Wo immer du sein wirst, ich weiß nicht, vielleicht mit einem Korb in der Hand beim Baumwollepflücken. Es ist gut, dass du das machst, da wird es sich formen, das Ich. Da wird es lernen zu sagen: Das mag ich, und das mag ich nicht. Kantig wird es da, verstehst du?«
Jan nickt, Anna-Marie schaut kurz auf, zieht die Beine dicht an den Körper, versenkt sich in das Reagieren auf die ersten Kommentare.
»So um 21 muss es kantig werden, sonst lümmelt es das Leben lang wie ein glibberiges Etwas herum, passt sich hier und da an, nimmt mal die, mal jene Form an; und geht dabei verloren, weil es nicht auf das Eigene zurückgreifen kann. Und das Eigene muss das Kantige sein, es muss in den eigenen und in den Augen der anderen weh tun. Das sag ich wirklich aus Erfahrung. Das musst du verstehen, ich mache nichts anderes, als das glibberige Etwas abzuziehen und den Schmerz in die Züge der Leute hineinzuschneiden. Und warum muss ich das machen?«
Jan schüttelt den Kopf. Ein Geruch von nassem, frisch gemähtem Gras, den die Regenwand vor sich herträgt, steht im Wohnzimmer.
»Weil die Leute ihr Ich verkümmern lassen, es nicht – und jetzt kommt es! – der Gefahr aussetzen. In Watte einpacken, dass es ja nicht aneckt, nicht verletzt wird, nicht zu Bruch geht. Es müssen Brocken herausbrechen, genau wie Till es gerade macht. Es müssen die fremden Ansichten von einem abfallen, lass mich mit dem Scheiß in Ruhe, muss es ausstrahlen. Bis 21, sonst hat es sich an das formlose Wattedasein zu sehr gewöhnt. Das habe nicht ich erfunden, das sagt bereits der werte Goethe. Bis zum 28. Lebensjahr geht das Ich auf die Reise, das ist kein Witz. Da muss es sich beweisen, ob es wirklich zu was taugt. Das ist seine eigentliche Geburt, verstehst du?«
Jan nickt.
»Während der guten alten Lehr- und Wanderjahre wird deutlich, was man an die Stelle der herausgeschlagenen
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