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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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die Prüfungen, sage ich. Meine Kinder sind damals auch aus dem Boden geschossen. Wie Pfingstrosen. Gleich ist der Frühling um, obwohl es nicht danach aussieht, man will es nicht glauben, nicht wahr? Sogar der Herr Wolfram von gegenüber hat den Frühjahrsputz bereits erledigt: gut durchgelüftet, die verdreckten Scheiben gewischt, den Keller ordentlich ausgemistet: tütenweise Mist nach draußen getragen. Bloß der Till, ich kann das nicht glauben, ist immer noch schwer krank, er muss schwer krank sein, setzt seit Monaten keinen Fuß mehr vor die Tür. Frische Luft, ein bisschen Abwechslung, das weiß jedes Kind, würde ihm gewiss guttun.« Sie überlegt, kratzt mit dem Fingerknöchel am Nasenansatz, drückt die Zigarette im Blumenkasten aus und vergräbt den Stummel. »Der Herr Doktor sollte es besser wissen. Wie vom Erdboden verschluckt, der Junge. Komisch, nicht wahr? – Kein Herumstrolchen, das geht nicht mehr, wenn man so krank ist, den ganzen Tag vor dem Bildschirm verbringt, die jungen Leute.«
    »Krank?«
    Sie holt eine Schachtel Zigaretten aus der Schürzentasche, bietet ihm eine an. Er lehnt ab. »Ja, das muss nicht sein. Wie Rattengift, sage ich immer.« Sie steckt sich eine an. »Wenn ich in aller Herrgottsfrühe die Bäckerei aufschließe, scheint bei ihm oben immer noch Licht. Ich werfe die Öfen an, gegen sechs kommen die Pendler. Da brennt es immer noch. Das ist er doch, nicht wahr?«
    »Ich weiß es nicht.« Jan schaut verlegen auf den Boden, dann zur Straße: Der Regen ist stärker geworden, spritzt schubweise vom Wind getragen gegen die Eingangstür.
    »Ja-an, es ist offen!«, tönt es aus der Sprechanlage.
    »Ich komme«, ruft er, will Frau Tretter die Hand reichen, da hat sie sich bereits abgewandt und ist schwerfällig, eine dichte Rauchwolke hinterlassend, in der Backstube verschwunden.
    Jan zieht die Schuhe aus, Karola reicht ihm seine Filzpantoffeln. Vor Tills Zimmertür sind Gegenstände in zwei Kisten verstaut: Aus der einen ragen Flaschenhälse, auf der anderen steht krakelig Hygiene-Kiste geschrieben. Im Wohnzimmer weist Karola ihn mit einer Handbewegung zur Couch. Er begutachtet den Stapel Design-Zeitschriften, blättert in einer gedankenverloren herum, während Karola aus der Küche den gekühlten Weißwein und zwei Packungen Grissini-Stangen holt. »Magst du?« Er nickt. Sie gießt ihm Weißwein ins Glas. Ihm gegenüber, im sonnengelben Ohrensessel lehnend, schlägt sie die Beine übereinander. Ihr Glas war bereits voll. Sie trägt einen kurzen Rock, der die Knie frei lässt, die Haut glänzt sonnengebräunt, trotz des langen Winters.
    »Ist er nicht da?«
    »Doch, doch, drüben.«
    »Ist er krank?«
    »Wer sagt denn das?«
    »Die Frau Tretter von unten.«
    »Ach, nein, er ist nicht krank, er braucht seine Ruhe.« Sie reibt sich übers Knie, Jan versucht, nicht zu auffällig hinzuschauen. Draußen donnert es, aber kein Blitz ist zu sehen. »Alles gut gelaufen bei dir, habe ich gehört.«
    »Ja, passt, ganz ordentlich.«
    »Und wie geht’s weiter? Erst einmal in die weite Welt hinaus?«
    »Deswegen bin ich hier. Zum Verabschieden.« Jan beginnt, an einer Grissini-Stange zu knabbern.
    »Wohin soll’s gehen?«
    »Das Übliche. Zuerst in die USA , Bekannte besuchen und dergleichen. Danach runter bis nach Chile, ich weiß noch nicht wie, ein Großteil sicher auf dem Landweg. Dann soll’s rüber nach Neuseeland gehen, Work and Travel und so.«
    »Auf Plantagen?«
    »Ja, auf Plantagen.«
    »Wie Oskar.«
    »Ja, wie Oskar.« Die Grissini-Stange ist zu einem Stumpf heruntergekaut, in einer kurzen Bewegung fegt er die Krümel vom Pullover. Der Wind ist nun so stark, dass die Jalousien heftig in den Halterungen klappern. »Nach Sommer hört sich das nicht an.«
    »Dem kann man nur entfliehen.« Hinter Jans Rücken hat sich Anna-Marie angepirscht und bedeutet Karola, sie solle sie nicht verraten. »Wir haben bereits Pläne für die Sommerferien, drei Wochen durchs mexikanische Hochland.«
    »Alle?«
    »Daran wird noch gearbeitet.«
    Jan überlegt, trinkt einen Schluck, nimmt sich eine zweite Stange Grissini. Anna-Marie greift um seinen Kopf und bedeckt seine Augen mit ihren kleinen Händen. Jan schreckt kurz zusammen, hält die Grissini-Stange wie einen Zauberstab: »Hm, wer könnte das denn sein?«
    »Das ist der Übeltäter, der nicht mitwill!«, sagt Karola.
    Sie grinsen.
    »Die Übeltäterin!« Anna-Marie hopst über die Couchlehne neben ihn.
    »Du bleibst hier?«
    »Nein: Ich springe in

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