Hikikomori
einrichten«, sagte sie. »Das ist doch überhaupt nicht angemessen für Jugendliche.« Und sie machte Vorschläge, wie man Räume ansprechender ausstatten könne. Natürlich waren wir die Ersten, die das zu spüren bekamen, die morgens in neu gestalteten Zimmern aufwachten und Mutter ihre ersten Eindrücke schildern mussten. Weihnachten 2004 lag eine Schicht Puderzucker über den Dächern, am Tannenbaum glimmten die Kerzen, bald ertönte der Tegetmeyer-Clan, bestimmt bis zur Straße hinunter hörbar, vielstimmig. Ich bekam ein Snowboard, Vater beschenkte sich und Mutter mit dem offenen Kamin, und Anna-Marie wurde mit verbundenen Augen in ihr Zimmer geführt. Bereits beim Eintreten stieß sie sich an den neuen Möbelstücken. Der Schrank war spindeldürr und meterhoch, sie musste auf einen Hocker steigen, um an die obersten Fächer zu gelangen. Die metallene Schreibtischplatte lag auf zerbrechlich wirkenden Beinen, hatte die Form eines Sterns, ihre Kanten waren messerscharf. Das Bettgestell wie aus einem Guss, das Rückenteil wie eine gezackte Berglandschaft. Anna-Marie gefiel ihre neue Zimmereinrichtung erst einmal gar nicht, sie wollte ihre alten Sachen zurück, wurde aber mit einer weiteren Überraschung besänftigt, meinem Snowboard in klein. Schließlich legte sie sich zufrieden in ihr Bergbett und knipste die kristalline Nachttischlampe an. »Das ist alles«, sagte Mutter, »nur um auszuprobieren, wie zielgerichtetes Einrichten sich auf Menschen auswirkt.« Kein Gast ließ es sich nehmen, einen Blick in die saisonal umgestalteten Zimmer zu werfen, was sich natürlich herumsprach, und Vater witterte gleich versteckte Potenziale und schenkte Mutter zu ihrem Vierzigsten den SchauRaum in bester Lage. Bei der Eröffnung benutzte ich die Armlehnen der Ohrensessel für meine Autos als Sprungschanze. Seitdem habe ich die Räume nicht mehr betreten.
Für Mutter sind wir eine hochwertige Familie. Man könne aus jedem von uns Einzelteile herauslösen, sagt sie, und als High-End-Produkte irgendwelchen Forschern oder Karosserie-Bauern anbieten: Made in Germany, handverschraubt, Ecken fein geschliffen, galvanisierte Oberflächen. Und hochwertige Familien bräuchten ein hochwertiges Umfeld, so ihr Credo. Das Innere des Menschen müsse sich im Außen der Umgebung spiegeln können, oder mehr noch: Das Außen müsse das im Innern Verborgene hervorrufen, evozieren. »Humanize!« prangt als Leitmotiv über dem Eingang ihrer Wirkungsstätte.
Die Mittagessen verlaufen unspektakulär. Bis zur Brotzeit döse ich vor mich hin, halte mich fit für die Nacht. Vater poltert über die Mi-casa-es-tu-casa -Fußmatte, sie reden, Mutter füllt ein Glas, Vater zieht den Mantel aus, das Jackett. Anna-Marie ist in letzter Zeit öfters bei Freundinnen. Das Tier ist unterwegs. Die Haussperlinge fressen mir die Wellenbutterbrote bereits aus der Hand, obwohl das erste Hochgefühl darüber schon längst verflogen ist. Ich bin versorgt, die Langeweile ist kurz davor, mich zu töten. Es sollte etwas passieren. Jeden Tag beobachte ich, wie ein Dönerspieß eingespannt und dann Schicht um Schicht heruntergesäbelt wird. Jan ist mit allem gut durchgekommen. Er schreibt mir kurze Nachrichten. Er denke an die Zukunft und wie es weitergehen kann. das leben liegt vor uns , schreibt er theatralisch.
9
»Ist offen!« Karolas Stimme klingt klar und deutlich durch die Sprechanlage. Jan, eine untertassengroße Uhr am schmalen Handgelenk, drückt die Haustür auf, ein kurzes Klacken, und er ist aus dem Regen.
»Wie geht es Ihnen, Frau Tretter?«
Die Bäckerin isst ein Nusshörnchen, zwischen den Bissen zieht sie an ihrer Zigarette und lässt Rauchschwaden in die Luft steigen. Jedes Mal denkt Jan aufs Neue, dass Frau Tretter selbst die Form eines Krapfens hat.
»Ach, der kleine Jan, triefend nass!« Sie streckt ihm das Nusshörnchen hin, er wehrt ab. Sie schiebt das letzte Stück in den Mund, wischt den Puderzucker an der Schürze ab. Er nähert sich ihr bis auf einen Meter, wartet höflich darauf, dass sie weiterspricht: »So klein ist er ja nicht mehr. Was macht er denn, der kleine Jan? Wie groß ist er schon geworden.«
»Ist gar nicht so lange her, Frau Tretter. Es kommt einem nur lange vor.«
»Wenn viel passiert, nicht wahr? Und, nun wird doch geprüft, nicht wahr? Das zieht sich, nicht wahr? Da wächst man jeden Tag, Meter für Meter.«
»Schon wieder vorbei, die Prüfungen«, sagt er.
»Herrgott! Du bist gewachsen, gewaltig in der Zeit. Das sind
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