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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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im Zimmer vergessen!«
    »T ill.« Karola fixiert ihn eindringlich. »Wir haben dich nicht vergessen, du hast Ostern verpasst, du wolltest da nicht raus, du hast nicht mit deiner Schwester suchen wollen, keine Hasen, nichts.« Die Schwester gleitet an der Flügeltür vorbei in Richtung Bad, in der Hand einen Pyjama. Karola nippt am Weinglas: »Lass uns das nicht jetzt besprechen, wir haben doch Gäste, das siehst du doch. Ruh dich einfach weiter aus, lass dir nichts einreden. Du bist etwas ganz Besonderes.«
    »Ist er für Ostern nicht zu alt?« Frau Reichert zerbröselt ihr Weißbrotstück.
    »Das ist Methode«, sagt Oskar. »Die Kinder sollen solange wie möglich in der Sphäre des freien Spiels aufwachsen.«
    »Und warum sprichst du so gegen ihn?«, fragt Karola.
    »Der Mensch spielt, wenn er Mensch ist. Und er ist nur dann Mensch, wenn er spielt. – Oder so ähnlich.«
    Herr Reichert nickt.
    »Dann stell dich hinter ihn.«
    »Gut, mach ich doch: Wenn die Medikation nicht anschlägt, sagen wir bis Pfingsten, schicken wir ihn zur Erholung nach Taizé. Das ist doch was! Nicht wahr, Till?«
    »Ich bin schon weg.« Till steht auf, gibt erst Herrn, dann Frau Reichert die Hand. »Kann ich das mitnehmen?« Er greift nach dem Brotkorb. Die Eltern nicken im Einklang.
    »Ach«, ruft Frau Reichert hinterher, »Grüße von Jan, er lässt ausrichten, dass wegen der Party alles wieder in Ordnung sei, du wüsstest, was er meint.«
    Till zieht die Tür hinter sich zu, streift über Couch die Pantoffeln von den Füßen, duckt sich unter der Wäscheleine hindurch. In Griffnähe zur Mouse stellt er den Brotkorb ab, fährt den Computer hoch, verdunkelt die Fenster, loggt sich in den 43312212.54-Server ein. Dehnt die Finger, lässt die Gelenke knacken, führt die Mouse sanft über die Tischplatte. Erste Schüsse.

8
    Es ist der 2. Mai, Wochenanfang, früh am Morgen, der 37. Tag hier drin, auf dem Fenstersims habe ich Brotkrumen verteilt. Um konsequenter in meinen vier Wänden bleiben zu können, setze ich auf Mutter, das sonderbare Geschöpf. Sie wird den Zettel im Flur entdecken, wird einsehen, dass sie mich in meinem Vorhaben bestärken muss. Der Zettel hat gerade so durch den Türspalt gepasst. In meiner schönsten Handschrift habe ich darauf geschrieben: Ein Brötchen, bitte.
    Während ich auf eine Antwort hoffe, nehme ich die steifen Klamotten von der Wäscheleine, falte die Shirts, stopfe die Socken ineinander. Die Leine hat überall eine Furche hineingeschnitten. Als wäre die Jeans meine Haut und die Leine die Zeit, die ihre Spuren auf ihr hinterlässt. Dann verstaue ich alles in der Kommode, neben dem Schreibtisch das letzte verbliebene Möbelstück. Ich zähle: sieben T-Shirts, drei Hosen, sieben Unterhosen, sieben zusammengewürfelte Sockenpaare.
    Auf der Marmorplatte der Kommode sitzend, kommt mir der Schnappschuss von Jan und den Pfadfinderinnen in den Sinn, während auf dem Fenstersims die ersten Vögel aus ihrem Sturzflug landen. Ich erinnere mich, wie er neben der Bäckerei mit seinem Roller auf mich wartete, mit laufendem Motor, auf dem Rücken ein großer Rucksack, eine Karte an den Tacho geheftet. Wir hatten gerade den 50er-Führerschein geschafft, er drückte mir einen Zettel in die Hand und sagte: »Ich warte.« Auf dem Zettel waren wenige Kleidungsstücke gelistet, nicht mehr als ich jetzt noch besitze. Im Zimmer packte ich zusammen, ohne darüber nachzudenken, was einen Tag oder eine Woche später sein würde. Jan hatte immer gute Ideen, ich musste ihm bloß folgen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Ich startete meinen Roller und folgte Jan zur Hauptstraße. An der ersten Tankstelle außerhalb der Stadt tankten und rauchten wir. Er lächelte über meine müden Augen, sagte, ich solle nicht die Nächte mit Matzes Gezocke vergeuden, hier draußen spiele das Leben! Wir traten die Zigaretten aus und schwangen uns auf die Roller. Als wir das zweite Mal tankten, etwa 100 Kilometer weiter, konnte man bereits die Berge in der Ferne sehen. Wir hatten Hunger, kauften an der Tankstelle zwei Tüten Bifi und versorgten uns mit einer handlichen Redbull-Kiste. Jan zog irgendeine Kreditkarte durch, und wir hinterließen leere Bifi-Packungen auf dem Parkplatz.
    Beim dritten Tankstopp umgaben uns schon sonnenlichtschluckende Bergketten. Wir schoben die Fahrzeuge bald öfter, als dass wir fuhren. Die höchsten Punkte der Gebirgspässe mühselig erklommen, lehnten wir uns Richtung Talsohle so vornüber, dass wir mit der Nase

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