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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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vornehmlich aber in weitläufigen Club-Med-Hotelanlagen mit angeschlossenem Kongresszentrum, wo er als bekannter Redner die plastische Chirurgie mit seinem anthroposophischen Menschenbild in Einklang zu bringen versucht. Wenn er von solchen Reisen zurückkehrt, hat er stets drei neue Einladungen in der Tasche. Mutter sagt, er habe das verdient. Ich sage, er könnte auch mit einem Hula-Hoop-Reifen auf der Bühne herumtollen, trotzdem würden sie ihn weiter buchen. Mutter hakt – mittlerweile skeptisch geworden – nach, ob Frauen diese Kongresse organisieren. Und Vater lächelt nur verschmitzt.
    Am Fenster pickt seit fünf Tagen derselbe Vogel seine erbeuteten Pizzaschnitten auseinander. Ich erkenne ihn, da er täglich dicker wird. In Vaters Philosophie sind Dicke träge, und träge Menschen krank und erfolglos. So einfach sei das. Vater ist alles andere als dick, muss sich aber zügeln, gerade in der Problemzone Bauch, sagt Mutter, um nicht anzusetzen. Der Espresso kocht auf. Vater trinkt massenhaft Espresso. Eine Tasse klappert, eine Tasse fällt herunter. Jeden Morgen fällt ihm etwas herunter, ich habe beschlossen, von nun an eine zweite Strichliste zu führen. – »Seine Finger zittern wie Espenlaub.« Espenlaub klingt komisch, wenn ich es ausspreche, zumal ich nicht mal weiß, was Espen sind. Zumindest zittert er, wenn er die Finger ausstreckt, Anna-Marie und mir demonstrieren möchte, dass er keine Gefahr für seine Patienten darstellt. »Er ist keine Gefahr«, sagt Mutter, »schaut euch doch die Vorher-Nachher-Bilder an!«, und händigt uns – sicher brav von der Sekretärin mit Photoshop manipulierte – Vergleichsbilder aus. Da fällt die Tür ins Schloss. Ich zähle bis 72. Da rattert das Garagentor hoch. Was mache ich nun?
    Es ist bereits Ende Mai. Ich zocke und schaue aus dem Fenster. Wenn ich aufwache, schreibe ich Zettel, ich warte, irgendwann esse ich. Einmal die Woche wasche ich mich noch. Mich und die Klamotten. Die Wäscheleine ist immer gespannt.
    Meist stürzen die Vögel in kleinen Trupps hernieder, ich konnte noch keinen Anführer ausmachen. Die Fensterscheibe trennt sie und mich, und ich kann ungestört beobachten. Sie schauen nicht einmal auf, wenn ich hinter der Scheibe wild herumfuchtele, und machen sich kugelrund und flauschig in aller Ruhe über die Krumen her. Wie ich sie um diese Ruhe beneide. Aber wie sollten sie auch Angst vor mir haben? Gebe ich nicht alles, um transparent zu sein?
    Ich habe kurz nicht aufgepasst, habe Sterne an Karls Fenster gezählt, habe mich gefragt, ob Karl je Kinder hatte, und schon sind sie unter den Vordächern verschwunden, lugen aus den Mauerlöchern hervor. Der Dönerspieß vom Vortag wurde um 10:30 Uhr wieder eingesetzt, seit 11:10 Uhr dreht er sich. Bis Mittag studiere ich weiter das Verhalten der Vögel. Ich bin kein Neuling mehr auf diesem Gebiet. Zuerst muss man die Gattung definieren. Ich mache ein Foto von dem prächtigsten Exemplar, drucke es aus und pinne es neben Kim und mein Porträt. In guter Gesellschaft, denke ich. Das Prachtexemplar eines Vogels definiere ich so: eiförmig, braun, spitzer Schnabel, in Löchern hausend, beidbeinig hüpfend, wie ein Klingelton fiepend, mutig, zutraulich . Schließlich schreibe ich meine Beobachtungen in ein Vogelfanclub-Forum, unter dem Pseudonym Young Bird-Watcher . Wenige Sekunden später die Antwort: Das ist der Vogel schlechthin, lieber Young B-W. Das ist der Haussperling, die wohl domestizierteste Vogelart. Sie hat sich an uns Menschen, gerade im städtischen Umfeld, angepasst. Der Haussperling ist der Hund unter den Vögeln. – PS 1: Weiter so, YBW ! Wir freuen uns, unsere Faszination auch mit jungen Menschen zu teilen! – PS 2: Der Dreckspatz (weil er sich nach dem Waschen gleich im Staub wälzt) hat, unseren Observationen zur Folge, tatsächlich begonnen, Handy-Töne zu imitieren. Das ist sehr gut beobachtet! (Vogel 1, Admin, 9822 Beiträge, Mitglied seit 2001.)
    Wissenschaft scheint aus Langeweile entstanden zu sein.
    Ein Klirren vor der Tür signalisiert das Mittagessen. Ich unterbreche meine Nachforschungen und setze mich mit der dampfenden Suppe auf den Schriftzug Couch . In die eine Ecke des Quadrats, wo früher der Beistelltisch stand, schreibe ich Karotte , stelle die Suppe darauf und löffle tief darübergebeugt weiter. Gesättigt schlafe ich im Schneidersitz für mehrere Stunden ein. Ich träume, wie Kim in einem Vogelgewand in meine Box hineinflattert. Sie will mir etwas sagen, ihr Mund

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