Hikikomori
Haar ist länger, struppiger geworden, die Augen sind nicht zu sehen, im Mundwinkel steckt eine Zahnbürste. Um die Mundwinkel Schaum, das Kinn wie der Hals sind unrasiert. Seine Haut wirkt ausgeblichen, als habe er wie eine Jeans in der prallen Sonne gelegen und ein wenig an Farbe verloren. Er trägt ein blaues, viel zu kleines Polo-Shirt und gepunktete Boxershorts. In der Boxershorts steckt ein Plastikbecher, der im ersten Moment wie ein erigiertes Glied wirkt. Sein schmaler Körper kann den Blick ins Zimmer nicht versperren. Jan erscheint es größer als sonst. Über allem liegen ein modriger Geruch und eine feine Staubschicht.
»Was machst du da?«, fragt Jan.
Till nimmt die Zahnbürste aus dem Mund, hält die Hand immer noch vors Gesicht, blinzelt kurz zwischen den Fingern hindurch und schluckt herunter: »Nach was sieht das aus?«
»Ich weiß es nicht.«
Till holt den Becher aus der Boxershorts und hält ihn in einen Mülleimer direkt neben der Tür. Wasser schwappt auf den Boden und bildet eine Lache. Er spuckt die Zahnpaste in den Eimer: »Ich spucke die Zahnpaste hier in den Eimer. Und jetzt nehme ich einen Schluck und gurgele wie der König des Barbarischen Meeres, Gurumusch.« Er gurgelt, wie sie es früher immer vor dem Schlafengehen gemacht haben, so dass die Zahnpaste Blasen schlägt, und spuckt die Flüssigkeit in den Eimer.
Jan schmunzelt.
Till tunkt die Zahnbürste ins Wasser, wäscht die Bürste und legt sie sorgfältig neben den Eimer auf ein ausgebreitetes Handtuch. Den Becher steckt er zurück in die Boxershorts. »Was wird das hier?«
»Wir planen Sommerurlaub«, sagt Karola. In Anna-Maries Tasche piept eine eintreffende Nachricht. »Und der Jan wollte sich verabschieden.«
Die Freunde schauen sich kurz an, dann wendet Till sich Oskar zu: »Okay.« Till weist ins Zimmer: »Macht es euch gemütlich.«
Langsam, als handele es sich um eine Ausstellungsfläche mit zerbrechlichen Exponaten, übersteigen sie den Grießbrei ins Rauminnere. Anna-Marie verharrt im Gang.
»Willst du nicht deinen Bruder besichtigen?«, fragt Till.
Sie schaut von ihrem Smartphone auf, sagt: »Ich muss noch etwas erledigen«, und verschwindet in ihr Zimmer.
Karolas Blick sucht die Kommode, findet sie in ihre Einzelteile zerlegt, von der Marmorplatte keine Spur. Als Nächstes begutachtet sie die Umzugskartons. Auf dem einen liest sie Hygiene-Kiste , diese füllt sie jeden Montag mit Oskars Präparaten, neuerdings mit Zahnpastetuben. Oskar bückt sich hinunter zum Terrarium, fährt mit der Hand über die Steine, die in Form einer Gebirgskette in Miniaturformat angeordnet sind. Jan betrachtet währenddessen die Stelle, wo einst das Bücherregal stand, und fährt mit dem Finger Tills Handschrift nach: Bücher , Bücher , Bücher. Das letzte Bücher überschneidet sich mit einem großen TV . Den Flachbildschirm hatten sie noch gemeinsam an die Wand geschraubt. Daneben entdeckt er ausgedruckte Vogelporträts, Detailaufnahmen, die das Bild Kims umrahmen.
Die Eltern gehen von Inschrift zu Inschrift, lesen Karotte, lesen Kommode. Karola versucht, den mehrmals durchgestrichenen Satz unter den Bildern zu entziffern, Oskar beobachtet auf einem der Computerschirme eine Figur beim Robben durch Schilf und Morast. Till hat sich eine Zigarette angesteckt, die Jalousie hochgezogen und das Fenster geöffnet. Jan neben ihm. Sie rauchen und aschen ihre Zigaretten am Rand eines Glases ab, während die Eltern weiter im Zimmer umhergehen.
»Die baust du doch wieder zusammen?« Karola deutet auf die Einzelteile der Kommode. »Das kann aber auch nach Mexiko sein.« Sie nähert sich langsam den Rauchenden. »Wieder so ein Urwaldabenteuer.« Sie steht jetzt ganz dicht neben den beiden, atmet auffällig tief ein.
»Gefahr vereint«, mischt sich Oskar ein.
Till drückt die Zigarette in dem Glas aus.
»Vereint überlegen wir uns dann auch eine Taktik«, sagt Oskar.
»Was für eine Taktik?«
»Wie wir erstens mit Prof. Dr. Peters Unterstützung gegen Frau König vorgehen. Einverstanden?«
»Ist mir egal.«
»Und wie wir zweitens deinen ins Stocken geratenen Muskelaufbau wiederbeleben.« Er fasst nach seinem Arm, lässt ihn dann aber schnell wieder los. »Ich denke da an die Methoden der Astronauten, wo per Flüssigkeit die Nährstoffe in kalkulierten Mengen dem Körper zugefügt werden. So einfach wird das sein. Ich werde mir da etwas Astronautenmäßiges einfallen lassen!« Oskar strahlt. Aus Anna-Maries Zimmer ertönt in
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