Hikikomori
deine scharlachrote haut pellt sich. nur die sonnenbrille hinterließ einen weißen fleck um deine augen. ich klicke weiter: mal schaust du schüchtern, oft hast du wenig an, mal küsst du eine goldmedaille, mal schwenkst du eine flagge vor röhrenden autos, mal bist du fähnrich auf der voyager in hautengem anzug, mal ein hund – zu guter letzt ein schlichter stuhl.
kim, du warst immer diejenige, die ohne die anderen auskam, die sich selbst genug war. wer sagt denn, dass der mensch eine gemeinschaft braucht? family-brunch und so weiter? er hat doch arme und beine, um alleine in den wald zu ziehen, eine höhle aufzusuchen, oder ein baumhaus, oder ein kellerloch, oder eine nur von waschbären bewohnte insel. vielleicht ist das unsere eigentliche bestimmung. in jedem menschen regt sich irgendwann hass, wenn er andauernd mit jemandem zusammenstößt. und es wird immer enger auf der welt. nicht nur, weil wir von tag zu tag mehr werden. vielmehr, weil wir alles durchdenken, weil alles, was wir erobern wollen, bereits erobert wurde. jeder raum, den wir meinen, als erster zu betreten, ist bereits übervölkert und seine luft schon lange abgestanden. weißt du, ich probe hier, der letzte mensch zu sein. ich sauge alles auf, was ich von mutter bekomme – ich gehe vorsichtig mit den ressourcen um. in den nachrichten würden sie mich dafür loben, würden sagen, man solle sich ein beispiel an diesem jungen nehmen, wie konsequent er das wasser einteilt, wie er auf die stimme der natur hört. vielleicht bin ich wirklich der letzte mensch auf erden. ich bin mächtig stolz.
der 86. tag bricht an. karl ist mit mir wach geblieben. wenn ich zu ihm hochschaue, duckt er sich schnell in die tiefe des raums weg, als fühle er sich ertappt. ich spiele weiter, mache den 70. strich an der wand. es geht erschreckend schnell richtung sommer. ich habe freunde gefunden, obwohl ich keinem menschen mehr begegnet bin. was sagt uns das, was sagt das über uns? du findest das bestimmt unerklärlich. ich behaupte: unsere körper sind überbewertet, längst aus der mode.
vielleicht erklimmt ihr gerade einen berg, während ich mandarine um mandarine esse. ich nehme es euch nicht übel, dass ihr die welt auf diese weise erkundet. ich mache es ja auch auf meine weise. ich werde beweisen, dass im kleinen detail die ganze welt stecken kann und dass man bei der betrachtung des kleinsten in ungeahnte höhen gerät. ich meine, es gibt doch forscher, die sich ihr leben lang mit amöben herumschlagen, sie heranzoomen, sezieren, zuordnen, ohne dass es ihnen langweilig wird. mein zimmer ist so eine amöbe, eine box, die alles nur mögliche in sich trägt. du kannst bald kommen und sie dir anschauen! till.
11
Ein HDMI -Kabel viele Male um den Arm gewickelt, bewegt sich Karl rückwärts zur Wohnzimmertür, immer etwas Kabel nachlassend, als gäbe er einem störrischen Fisch Leine nach. Die Stirn in Falten, Schweißperlen an den pochenden Schläfen, ein Schweißfleck auf dem Rücken des kurzärmligen türkisfarbenen Hemds. In der Gesäßtasche der korrekt gebügelten Bundfaltenhose steckt ein Telefon. Ein leichter Bauchansatz ist sichtbar. Er passiert einen unter die Dachschräge passgenau gezimmerten Schrank voller mit Ziffern beschrifteter Ordner, den mit Dokumenten überladenen Sekretär, entfernt sich schrittweise vom Fenster und vom der Straße zugewandten Balkon.
Im Gang ist es dunkel, kurz schaut er ins vom Abendlicht beleuchtete Kinderzimmer: Die himmelblaue Bettdecke ist akkurat gefaltet, eine Giraffenfamilie sitzt der Größe nach sortiert in der Ecke, die von ihm eigenhändig an der Fensterscheibe angebrachten Sternzeichen, Kassiopeia und Orion, deren Leuchtkraft vor langer Zeit bereits verblasste, schimmern schwach.
Die Fenster des Schlaf- und Arbeitszimmers weisen in den Hinterhof. Das Bett an der einen, der Rechner an der anderen Wand. Karl gibt den letzten Kabelmeter nach und verbindet den HDMI -Stecker mit dem Gehäuse. Der Computer synchronisiert automatisch, auf dem Bildschirm erscheint: Jetzt Live gehen! Karl nimmt das Telefon aus der Gesäßtasche und legt es neben die Tastatur. Als wäre es damit nicht einverstanden und wollte lieber auf die Station zurück, um mit voller Kraft wichtige Anrufe entgegennehmen zu können, piept es dreimal und lässt das Akkusymbol trotzig aufblinken.
Karl geht live, schaltet die Option HD wie empfohlen ein, da die Kamera die notwendige Datenmenge liefert. Es erscheinen Videofenster und eine
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