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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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Brocken setzt, wie man sich neu belädt, mit Fähigkeiten und dergleichen. Danach, ab dem fünften Jahrsiebt, so um die 28 aufwärts, geht’s ans Werk, da ist der Rucksack geschnürt, das ist der Feinschliff des Ichs, da kann nichts mehr auf die Reise mitgenommen werden.«
    Karola ist hereingetreten, in der einen Hand den Grießbrei, in der anderen Stift und Papier in Regenbogenfarben.
    »Und«, setzt Oskar an, »wie planst du deine Reise anzugehen?«
    »Ich hab sie schon gebucht: ein All-around-the-World-Ticket.« Jan legt den Arm über Anna-Maries Schulter: »Mit der Kleinen hier.« Anna-Marie strahlt.
    »Perfekt.« Oskar nickt zustimmend. »Ihr kalkuliert einen Stop-over in Mexiko ein und alle Probleme sind aus der Welt! – Und nach der Weltreise? Immer noch Architektur?«
    »Da hat sich nichts geändert.«
    »Amen.« Anna-Marie steckt das Smartphone in die Tasche.
    Die Kisten vor Tills Tür sind mittlerweile entfernt worden, auf der Schwelle dampft der Grießbrei. Aus Tills Zimmer sind bis auf den Flur einsilbige Befehle einer rauchigen, tiefen Stimme zu hören. Zudem verhallende Schüsse. »Französische Schülerinnen schießen besser! Französische Schülerinnen schießen besser!«, ruft die Stimme derartig aufgebracht, dass sie über ihre eigenen Worte stolpert, sich im Rufen überschlägt.
    In Form eines Halbkreises stehen sie dicht beieinander: Anna-Marie leicht versetzt hinter Jans Schulter, Oskar daneben, Karola der Tür am nächsten. Wie eine auf das Geburtstagskind wartende Familie. Den Zettel an die Tür als Unterlage drückend, schreibt Karola: Heute wartet ein Klassiker, lieber Till, draußen auf dich: eine Überraschung! – Karo. Zu Jan gewandt flüstert sie: »Schau, wie das funktioniert«, und schiebt den Zettel unter der Tür durch.
    Sie lauschen. Ein Geräusch, als würden Patronenhülsen eine nach der anderen ins Gewehr gedrückt, nachgeladen. Befehle, eine Frauenstimme mit französischem Akzent: »Go and run you yellow bellies! Go and run – Go and run you yellow bellies!« Oskar knetet die Hände, Anna-Marie ist ganz hinter Jans Rücken verschwunden. Etwas nähert sich der Tür, es ist ein Geräusch, als würde über ein Fell gebürstet. Ein Zettel flutscht unter dem Türspalt hindurch. Sie stecken die Köpfe über dem Papier zusammen.
    »Ich kann’s nicht lesen«, flüstert Jan.
    »Also, in etwa schreibt er: Stell es einfach hin, liebe Karo, das Tier wird es sich holen.«
    »Ein Tier?«
    »Und der Buchstabenhaufen da?« Oskar deutet auf den Zettel.
    » FYEO bedeutet, die Nachricht ist nur für den Empfänger bestimmt«, erklärt die Schwester.
    »Woher soll ich das wissen?«, sagt Karola.
    »For Your Eyes Only, was denn sonst?«
    Karola überlegt eine Weile, sagt dann: »T ill hat sich ein mexikanisches Reptil bestellt, ein ziemlich großes. So hat er das zumindest geschrieben. Bis heute ist es aber nicht angekommen. Vieles, was er sich vornimmt, verläuft im Sand. Was aber ankam, waren Bildschirme und stapelweise Umzugskartons. Er wollte seine alten Sachen aussortieren. Er hat Größeres vor. Da will er nicht gestört werden.«
    »So etwas habe ich mir gedacht.« Oskar knetet immer noch die Hände.
    »Wie locken wir ihn jetzt raus?« Anna-Marie schaut in die Runde.
    Bevor Karola weitere Nachrichten auf den Zettel schreiben kann, tritt Jan an die Tür heran. Er will gerade klopfen, da öffnet sich die Tür eine Handbreit wie von selbst. Das Licht im Flur fällt als trapezförmiger Streifen auf das Parkett und gibt einen Ausschnitt des Zimmers preis. Sie sehen inmitten des Raums eine Matratze, Stapel von Klamotten und Büchern, ein paar Umzugskartons, im Hintergrund zwei Bildschirme. Wie blau leuchtende Augen eines gierigen Ungeheuers. Das Licht zerfällt in der Tiefe des Raums, wird immer blasser. Sonst ist es stockdunkel, die Jalousie muss heruntergelassen sein. Oder eine tiefschwarze Nacht hat sich plötzlich über die Straße gesenkt, alle Lichter verschluckt. Aus den Boxen klingen verhallende Schritte und Stimmen: Eine dritte, in ihrem Tonfall etwas dümmliche, lallt in trägem Deutsch: »Es ist gut – Es ist gut – Es ist gut, dass der weg ist!«
    »Wer da?« Tills Stimme hört sich an, als wäre seine Zunge wie gelähmt und trage schwer an jeder Silbe. Die Stimmen und Spielgeräusche verstummen. Er muss direkt hinter der Tür stehen.
    »Ich bin’s, der Jan.«
    Till zieht die Tür auf. Das Flurlicht fällt grell auf ihn, lässt ihn reflexartig die Hand vor das Gesicht ziehen. Das

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