Hikikomori
überwinde den Schmerz.
»Zwei!«
Wie ich dazu in der Lage bin. Wie ich einen enormen Willen entwickelt habe. Das will ich ihm sagen. Wie ich das Interesse für die komplette Außenwelt verloren habe, wie ich mir von niemandem mehr was sagen lasse. Wie ich dabei bin, mir eine eigene Welt aufzubauen. Wie ich sie groß, Papa, wie ich sie unendlich groß werden lasse!
»T ill, ich warte nicht!«
Wie ich das nicht aufgeben werde, weil ich zu einer bedeutenden Person für einen Kreis besonderer Menschen geworden bin. Dass sie sich auf mich verlassen können, jederzeit ansprechbar. Dass ich mich voll und ganz auf sie einlassen werde, dass das Alltägliche mich nicht im Bann hält, wie er sich das doch immer gewünscht hat. Dass sie von weit her gereist sind, um mit mir gemeinsam diese neue Welt aufzubauen, deren Basis ich stifte: einen Server, der sie für immer online halten wird.
Aber Vater zertrümmert nicht meine Tür. Der Leguan hebt seinen Kopf von meiner Brust, als hätte auch er vermutet, dass Vater einmal doch ernst machen würde. Draußen rauscht eine Sirene vorbei. Ich höre, wie Vater das neu erworbene Laufband anwirft, Luft einsaugt, seine Schritte auf dem Band aufschlagen. Der Leguan fährt seine Zunge ein. Die Taktzahl von Vaters Schritten erhöht sich. Weiß er, dass wir nur Spaß machen? Der Leguan schließt die Augen, legt seinen schuppigen Kopf auf meine Brust. Das Gerät piept bei jedem Kilometer. Der Leguan will, dass ich einschlafe und kräftig bleibe. Drei, flüstere ich.
13
Die Glasfront des l-förmigen SchauRaum s reicht vom Boden bis zur Decke und ist vom Atem der Gäste beschlagen. Regentropfen perlen von der Scheibe ab, dann und wann erhellt ein Autolicht die dunkle, kopfsteingepflasterte Gasse. Drinnen darf nach der offiziellen Inauguration geraucht werden. Karola stützt sich mit dem Arm auf dem Tresen ab, der eigens aus handgeformten und von Gras durchsetzten mayanischen Lehmziegeln gefertigt wurde. Frau Reichert steht in identischer Pose daneben, ein Glas Weißwein vor sich. Karola trägt, ganz gegen ihre Gewohnheit, eine bunt bestickte Bluse mit weiten Taschen in Blumenornamentik.
Der Raum gleicht einem in farbiges Licht gehüllten Café, Palmen sind dekorativ um die Möbel herum positioniert, überall faustgroße Totenköpfe, bunt lasiert, die den Gästen ihre Zähne entgegenstrecken. Jedes Möbelstück ist ein Unikat, eine Tisch- und Stuhlgruppe versprüht den Charme des Nachlässigen. Eine weitere Sitzgruppe besteht aus deformierten Autoteilen des legendären grünen mexikanischen Käfers. Von der Decke baumeln Lampen aus Kokosnüssen, Mülleimern oder Getränkekisten mit Aufschriften wie: Sol enciende tu sabor! In der Mitte des Raums hängt eine Lampe aus Sisalfasern, die an ein überdimensionales Raupennest erinnert. Gäste blättern im Ausstellungskatalog, der von zwei Mitarbeiterinnen auf Nachfrage ausgehändigt wird. Sie erfahren, dass jenes in Handarbeit gefertigte Exemplar »Lurchlüster« genannt wird. Als sie Kaufinteresse zeigen, betont Karola, dass sich das Sisalgewebe wie ein Kokon um das fragile Licht spannt, dieses so vor der Außenwelt zu schützen weiß. »Das Licht ist der wahre Wesenskern«, sagt sie und wartet ab, ob die Lampe mit einem roten Punkt versehen werden soll.
Wenn die Gäste lange auf einem Exponat sitzen, strecken sie die Glieder; denn die Stücke sind keineswegs bequem. Die Preise erfragt man bei den Mitarbeiterinnen, die unauffällig aber präsent mit Tabletts durch die Reihen wandeln, keine Sekunde das Lächeln vergessen, während die Gäste nach den frittierten Bananen und den mit Bohnen und gebratener Schwarte gefüllten Gorditas greifen. Eine Blickkontakt genügt, und eine der beiden holt einen Punkt aus der Westentasche und drückt ihn auf die Kiste, auf der ein junges, hippes Pärchen sitzt. »Eine exzellente Wahl«, sagt Karola zu dem mit schwarzen Ray-Ban-Brillen ausgestatteten Paar. »Eine originale Transportkiste, handgezimmert aus Schwemmholz, zum Tiertransport geeignet.«
Auf aufgeschüttetem Sand singt eine junge Frau unter einer Palme inbrünstig Bello e Impossibile von Gianna Nannini . Beinahe küsst sie das Mikrofon. Sie ist eine ehemalige Schulkameradin Tills. Karola entfernt sich galant von der Bar, bleibt am Rand zur Sandlandschaft stehen. »Aus der wird noch was Großes«, sagt eine Frau mit Hochsteckfrisur neben ihr, in deren Haare Rosen eingebettet sind und die sie an Frida Kahlo erinnert. »Bei der Ausstrahlung, das hat
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