Hikikomori
nicht jeder.«
Karola schließt die Augen, Sand knirscht unter ihren Füßen. Für einen Moment vergisst sie, dass sie der eigentliche Mittelpunkt des Abends ist. Beim Refrain öffnet sie die Augen wieder. Sie zählt vierzig Gäste. Alle Teil der Ausstellungsfläche, denkt sie und nimmt einen Schluck. Man könnte auch Punkte an den einen oder anderen Gast kleben. Ein Großteil der Anwesenden ist der Musik zugewandt: grau melierte Herren in lässigen Anzügen und knalligen Schuhen, selbst gedrehte Zigaretten rauchend; Damen mit Kurzhaarfrisuren, Ringe in Form von Efeublättern an den Fingern, in kirschroten Pumps, eifrig in den Katalogen blätternd. Manche stimmen in den Refrain ein. Es ist kurz vor Mitternacht. Etliche Flaschen wurden bereits geköpft.
»Sie haben sich mal wieder selbst übertroffen.« Die Frau mit Hochsteckfrisur hat rote, volle Wangen, dabei trotzdem ein markantes Gesicht. Ihr Atem riecht süßlich: »So originell wieder hier – ich könnte alles kaufen!«
Karola lächelt, bedankt sich, erzählt, wie sie das meiste auf der Familienexkursion nach Mexiko gefunden habe, dass man das gewohnte Umfeld verlassen müsse, um für neue Formen offen zu sein.
»Sie haben bestimmt eine tolle Familie«, sagt die Frau, »mit meiner könnte man so etwas nie unternehmen.«
Karola hebt das Glas, sagt: »Dann brechen Sie eben alleine auf, oder suchen sich gleich jemanden hier aus, mit dem man so etwas machen kann.« Ihre Gläser klirren beim Anstoßen. Das nächste Lied ist ein salonfähiger Popsong, zu dem die jüngeren Gäste zu tanzen beginnen, in der ersten Reihe das Ray-Ban-Pärchen. Eine Bedienung balanciert ein Tablett mit Getränken durch die Tanzenden, für die Frauen gibt es fermentierten Agavensaft mit Mangogeschmack, die Männer trinken stoßweise Mezcal. Karola prostet Frau Reichert zu, die ihr auf Schritt und Tritt folgt, ohne jemandem wirklich aufzufallen. Vor der Sängerin sind ein Keyboard und eine Tastatur aufgebaut. Sie drückt eine Taste, woraufhin ein sanfter Bass durch den SchauRaum wummert. Die Sisalfasern des »Lurchlüsters« vibrieren, das Teeservice in Regenbogenfarben, bereits mit einem Punkt versehen, klappert. Karola braucht eine Weile, bis sie das hektische Zucken in ihrer Tasche ihrem Telefon zuordnet.
Die Musik verebbt, als sie die Eingangstür hinter sich zuzieht und in die dunkle Gasse tritt.
»Oskar, was gibt’s? Du weißt doch, was heute ist.«
Karola hört ihm ohne Regung im Gesicht beim Sprechen zu. Hinter der Scheibe steht Frau Reichert und blickt ins Dunkle oder in ihr eigenes Spiegelbild.
»Oskar«, fängt Karola mit gedämpfter Stimme an, »du bist der Arzt, lass dir endlich etwas einfallen!« Sie drückt die rote Hörertaste, im warmen Innern wird sie von Frau Reichert mit einem neuen Getränk bereits erwartet.
»Ist was passiert? Du schaust so irritiert.«
Karola wischt sich über die Wange, die Regungslosigkeit verfliegt, als wäre sie wirklich weggewischt worden, und Karola strahlt wieder von innen heraus, versucht, präsent zu sein, aber nicht plump durch die Mimik und Gestik ihres Körpers, sondern ganz alleine durch die Augen hindurch verteilt sie Kusshände, Aufmunterungen, ein sanftes Lächeln. »Oskar wollte mir nur Gute Nacht sagen. Er muss morgen früh raus. Eine Tagung.«
Sie bahnen sich einen Weg zur Tanzfläche. Der Beat hat sich weiter erhöht und ist satter geworden: Electroswing. Das Ray-Ban-Pärchen scheint den passenden Tanzkurs besucht zu haben. Karola packt sich einen der grau melierten Herren, der sie ohne zu zögern auf der Tanzfläche herumwirbelt. Es ist einer ihrer früheren Kommilitonen, Joachim, der Frauenschwarm am Kunsthistorischen Institut. Nicht nur weil er gut aussah, buhlte auch Karola um ihn, sondern weil seine Eltern bedeutende Sammler waren und jeder gerne an der Seite eines Mäzenensohns das Studium abgeschlossen hätte. Karola hatte sich gegen alle Kontrahentinnen durchgesetzt und Joachim für sich gewonnen, bis er auf dem Medizinerball gegen den große Reden schwingenden und alle in seinen Bann ziehenden Oskar eingetauscht wurde.
Ein paar Getränkerunden später verabschiedet sich Frau Reichert. Sie sei hundemüde, für den harten Kern nicht mehr so geeignet. In der Sitzecke, die laut Katalog den zwei Mexico City umgebenden Vulkanen Popocatépetl und Ixtaccíhuatl nachempfunden wurden und für den »öffentlichen Indoorbereich« geeignet sei, fläzen sich die Übriggebliebenen so relaxed wie möglich. Karola lässt sich
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